Als eine Klimaaktivistin der "Letzte Generation" auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im Herbst 2022 zum Vortrag eingeladen wurde, kritisierten schon einige aus der Kirche diese Entscheidung. Immer häufiger werden mittlerweile Klimaaktivisten beschimpft. Und nun bekräftigte der Religionspsychologe Michael Utsch vom der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), dass die "Letzte Generation" Züge einer Sekte habe. (Wir berichteten).
Das Statement mit dem Sektenvergleich wurde zum Aufreger. Die Theologin und Kölner Schulpastorin Charlotte Horn schrieb an evangelisch.de. Sie sieht in Utschs Bewertung ein Mittel, die Klimaaktivisten "in der öffentlichen Wahrnehmung zu diskreditieren". Die "Letzte Generation" weise "kein einziges Merkmal einer Sekte auf". Utsch hatte zuletzt im "Kölner Stadtanzeiger" (15.2.) noch einmal seine Einordnung der Klimaaktivisten bekräftigt.
Nun hat sich auch die Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin zu Wort gemeldet. Friederike Krippner ist auch EKD-Synodale. Sie sagt, es sei schon bemerkenswert, wie sehr sich gesellschaftliche, aber gerade auch kirchliche Akteure an der "Letzten Generation" abarbeiten. Kaum jemand bestreite öffentlich die Notwendigkeit, Klima und Umwelt wirksamer zu schützen.
"Der wenig aussagekräftige Sekten-Vergleich ist ein Symptom einer unguten Diskursverschiebung: Statt über das Eigentliche – den Klimawandel und seine Folgen – zu sprechen, diskutieren wir mit viel Verve über diese eine Protestbewegung", sagte Friederike Krippner auf Anfrage von evangelisch.de. Dieselbe Zeit und Energie sollte lieber darauf verwendet werden, "gemeinsam darum zu ringen, wie die Bewahrung der Schöpfung gelingen kann, wie wir den menschengemachten Klimawandel abmildern und seinen weltweiten Folgen fair begegnen können".
Konkrete politische Forderungen
Tatsächlich ist es nach Ansicht von Krippner problematisch, wie stark die "Letzte Generation" mit Angst arbeite. Aber aus ihrem endzeitlichen Weltbild folge für die Aktivist:innen eben keine Hoffnungslosigkeit, sondern "sie formulieren ganz konkrete und politische Forderungen wie ein Tempolimit oder neuerdings einen Gesellschaftsrat, der die Regierung in Klimafragen beraten soll".
Ob und wie die Aktionsformen der "Letzten Generation" juristisch zu ahnden sind, mögen in einem Rechtsstaat Gerichte entscheiden – und es stehe natürlich jedem frei darüber zu debattieren, wie weit ziviler Widerstand gehen darf. Aber jede und jeder solle sich vor allem fragen, worüber sich mehr nachzudenken lohne: Darüber, ob wir ab und zu wegen einer Protestaktion im Stau stehen oder darüber, wie wir die Pariser Klimaziele erreichen können.
Forscher sehen 1,5 Grad-Ziel als nicht mehr erreichbar an
Der stellvertretende Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) in Heidelberg, Oliver Foltin, schaut in dieser Debatte mehr auf die Wissenschaft.
Die Analyse hinsichtlich des Ernstes der Klimakrise, die sich jetzt schon abzeichnet und in Zukunft noch viel massiver droht, werde von vielen Menschen innerhalb der evangelischen Kirche geteilt, sagt er. Foltin unterstreicht: "Bereits heute sehen renommierte Klimaforscher das 1,5-Grad-Ziel als eigentlich nicht mehr erreichbar an." Selbst UN-Generalsekretär Antonio Guterres verwende in Bezug auf den Klimawandel drastische Worte, wenn er davor warnt, dass in den kommenden Jahrzehnten ganze Länder in Folge des durch die Erderwärmung verursachten Anstiegs des Meeresspiegels für immer verschwinden könnten. Hier geht es zum UN-Bericht.
Demokratisches Recht auf Protest
Auch Foltin meint, dass eine gewisse "Endzeit-Angst" bei solchen Szenarien und Prognosen sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen sei. "Bei einer Erderwärmung um drei Grad und mehr sind die Folgen des Klimawandels vermutlich für die Menschheit nicht mehr oder nur noch extrem schwer beherrschbar", sagt der stellvertretende Leiter der evangelischen Forschungsstätte FEST.
Im Hinblick auf Generationengerechtigkeit und Freiheitsrechte zukünftiger Generationen als zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung stellt Foltin fest, dass diese Ziele "politisch und gesellschaftlich noch immer nicht hinreichend berücksichtigt" werden. Auch Deutschland wird nach Ansicht von Foltin seine Klimaziele bis 2030 eher verfehlen als erreichen.
Die Klimaaktivist:innen hätten selbstverständlich das demokratische Recht auf Meinungsäußerung hierzu, auch in Formen sozialen Protestes. Wo sie den Rahmen der Rechtsordnung überschreiten, müssen sie mit entsprechenden rechtsstaatlichen Sanktionen rechnen.
Versachlichung der Debatte nötig
Es braucht laut Oliver Foltin jetzt aber vor allem eine Versachlichung und Entemotionalisierung der Debatten. Damit das eigentliche Anliegen zu deutlich mehr und intensiveren Klimaschutz wieder in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt werde und nicht die Methoden des Protests.
Hierbei sei vor allem auch Kirche gefragt, um Diskursräume zur Verfügung zu stellen, in denen solche gesellschaftlichen Konflikte reflektiert und neue Perspektiven eröffnet werden. Dabei könne und sollte Kirche Gesprächsforen für einen sachlichen Dialog von "Letzter Generation" mit PolitikerInnen und VertreterInnen der Zivilgesellschaft schaffen.
Das gemeinsame Hauptanliegen aller, die sich für Klimaschutz engagieren, müsse die Transformation zu einer klimafreundlichen und zukunftsfähigen Gesellschaft sein, so Foltin. "Das sehe ich auch bei der ,Letzten Generation' gegeben und teile daher persönlich keinesfalls die Auffassung, die hier eine ,sektenähnliche Bewegung' entstehen sieht."
Einseitige Etikettierung
Die Religionspädagogin der Evangelischen Hochschule Nürnberg, Professorin Kathrin Winkler schätzt die Beurteilung der "Letzten Generation" durch die EZW als höchst problematisch ein. Es sei eine "einseitige Etikettierung als sektenähnliche Klimainitiative". Allein auf der Basis von zwei Kriterien, die eine Sekte kennzeichnen können, werde der "Letzten Generation" Schwarz-Weiß-Denken, unbegründete Endzeit-Angst und Irrationalität vorgeworfen.
Ohne sich differenziert mit den existentiellen Beweggründen und Argumenten der Mitglieder auseinanderzusetzen, erhalte die "Letzte Generation" so das Negativ-Label "Sekte" oder wie in anderen Zusammenhängen "Klima-Terrorismus". Eine solche Beurteilung von einer Einrichtung der EKD diskreditiere eine Bewegung von jungen Menschen, die auf der Grundlage von demokratischen Werten in die politische Öffentlichkeit gehen und sich gewaltfrei für die in der Verfassung garantierten Lebensgrundlagen einsetzten, so Winkler. "Auch wenn über manche Formen durchaus gestritten werden kann - diese Beurteilung zeigt, wie hilflos etabliert und damit theologisch fragwürdig mit gesellschaftlich drängenden Phänomen umgegangen wird", gab die Religionspädagogin zu bedenken.
Denn die "Letzte Generation" befindet sich nach den Worten Winklers auf einer Faktenbasis mit dem Bericht des "Club of Rome" zur Lage der Menschheit von 1972, in dem vor Industrialisierung, Ausbeutung von Rohstoff-Reserven und der Zerstörung von Lebensraum schon vor über 50 Jahren gewarnt wurde. Wenn kein weltweites Umdenken beginne, würden "die erwähnten Probleme derartige Ausmaße erreicht haben, dass ihre Bewältigung menschliche Fähigkeiten übersteigt." Daran habe sich auch 2022 nichts geändert, als UN-Generalsekretär António Guterres konstatierte: "Wir haben die Wahl: Kollektives Handeln oder kollektiver Suizid."