Wenn Mary Cheptoos Handy klingelt, dann ist sie in Alarmbereitschaft. Sie wird oft angerufen, wenn Menschen in der Gegend auf Mädchen treffen, die von zuhause weggelaufen sind - weil sie vor einer drohenden Genitalverstümmelung oder einer frühen Heirat fliehen wollen. Besonders häufen sich die Fälle in den Ferien zu Weihnachten und im Juli. Bei Mary Cheptoo beginnt dann ein eingespieltes Programm: Mit ihrem Mann oder ihrem Sohn schwingt sie sich aufs Motorrad und sammelt das Mädchen ein.
Gemeinsam fahren sie zur Polizei, um den Fall zu melden. Wenn es schon Abend ist, übernachtet Mary Cheptoo mit dem Mädchen in dem Gästezimmer, das sie und ihr Mann vor ein paar Jahren extra für solche Fälle auf ihrem Grundstück gebaut haben. Am nächsten Tag sucht Cheptoo dann einen Ort, an dem das Mädchen bleiben kann. Es gibt nur wenige Notunterkünfte, oft sind die voll. Dann bringt Mary Cheptoo das Mädchen in die Grundschule in Alale.
Weltweit haben nach Angaben von Unicef rund 200 Millionen Frauen eine Genitalverstümmelung erlitten - viele von ihnen leben in afrikanischen Ländern. Aber auch in einigen arabischen Ländern und in Indonesien wird die Beschneidung von Mädchen praktiziert. 21 Prozent der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, die in Kenia leben, mussten nach Angaben von Unicef das grausame Ritual über sich ergehen lassen. Viele Frauen leiden ihr Leben lang unter den Folgen - Schmerzen, Verlust der Libido und teils tödliche Komplikationen bei der Geburt.
Mehr Beschneidungen in Corona-Pandemie
West Pokot ist eine der Regionen in Kenia, in denen die Genitalverstümmelung von Mädchen bis heute weit verbreitet ist. Laut den letzten offiziellen Zahlen von 2008 sind rund 96 Prozent der Frauen hier beschnitten. Auch wenn die weibliche Genitalverstümmelung in Kenia seit vielen Jahren verboten ist, die gelebte Praxis ist eine andere. In der Corona-Pandemie wurden sogar wieder mehr Mädchen beschnitten, wie Mary Cheptoo und ihre Mitstreiter in der Region an der Grenze zu Uganda beobachtet haben.
Bei den oft nomadisch lebenden Pokot erhalten die Eltern für ein beschnittenes Mädchen mehr Kühe als Brautpreis. Und die wiederum helfen dann dabei, die Eltern und die übrigen Geschwister zu ernähren. Die meisten Mädchen sind zwischen 10 und 15 Jahre alt, wenn sie beschnitten und dann an oft Jahrzehnte ältere Männer verheiratet werden.
Geretteten Mädchen fehlt es am Nötigsten
Mary Cheptoo hatte Glück. Ihr Vater konnte zur Schule gehen, wurde dann Beamter und löste sich von der Tradition, in der die Mädchen verstümmelt werden. Jetzt setzt sie sich ehrenamtlich dafür ein, dass in Zukunft keine Mädchen mehr beschnitten werden. Ihr christlicher Glaube trägt sie, lässt sie manchmal aber auch verzweifeln: "Warum lässt Gott das zu?"
Wenn Cheptoo zu Besuch in der Grundschule Alale ist, dann versammeln sich die Mädchen, die sie dort hingebracht hat. An die 90 sind es derzeit. Die Schule ist, wie der Großteil der öffentlichen Schulen in Kenia, ein Internat. Den geretteten Mädchen fehlt es oft am Nötigsten, Binden, Seife, Schuluniformen. Denn auch wenn die Schule versucht, Kontakt mit den Familien aufzunehmen, unterstützen diese die Mädchen nur in den seltensten Fällen. "Es macht mich traurig, dass ich selbst nicht genug habe, um ihnen wirklich zu helfen", sagt Mary Cheptoo.
Für viele Mädchen ist es das erste Mal, dass sie zur Schule gehen können. Die Alphabetisierungsrate in West Pokot liegt bei 30 Prozent. Wenn Familien es sich leisten können, schicken sie meist zwei der durchschnittlich sechs bis sieben Kinder pro Familie zur Schule. Die anderen kümmern sich um das Vieh.
Weil die Genitalverstümmelung von Mädchen in Kenia seit 2011 illegal und strafbar ist, finden die Zeremonien oft versteckt statt. In den Weihnachtsferien wurde Mary Cheptoo angerufen, und als sie ankam, waren die betroffenen Mädchen schon heimlich zur Beschneidung weggebracht worden.
Manchmal arbeitet Mary Cheptoo mit Organisationen zusammen, dann bekommt sie auch ein wenig Geld. "Das hilft zumindest dabei, immer genug Sprit im Tank zu haben", sagt die Retterin auf dem Motorrad. Sie wünscht sich mehr Unterstützung für die Mädchen in West Pokot, damit sie zur Schule gehen und selbst entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten wollen.