Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) betont der evangelische Pastor und Leiter der Hildesheimer Blindenmission, wieso Braille trotz Computern und Mobiltelefonen mit Spracherkennung und Sprachausgabe bis heute immens wichtig ist.
epd: Herr Chrzanowski, welche Bedeutung hatte die Blindenschrift, als Louis Braille sie 1852 erfand?
Andreas Chrzanowski: Nicht nur für damals, sondern noch bis heute hat diese Erfindung eine ganz große Bedeutung. In der Zeit des 19. Jahrhunderts war sie absolut revolutionär. Das 19. Jahrhundert war in jeder Hinsicht ein Aufbruch in der Pädagogik für blinde Menschen, besonders in Frankreich. Vorher sind blinde Menschen überhaupt nicht unterrichtet worden. Dann aber machten sich Lehrer Gedanken, wie man Schrift an blinde Kinder und Jugendliche vermitteln kann.
Die Blindenpädagogen hatten sich ein System mit erhabenen Buchstaben erdacht. Das war aber angelehnt an die Schrift der Sehenden. Das Revolutionäre an der Blindenschrift ist, dass Louis Braille auf die Idee kam, diese Schrift muss so fühlbar sein, dass man einen Buchstaben mit der Fingerkuppe erfassen kann. Aus sechs Punkten die Blindenschrift zu formen, war ein Zugang, den nur ein Blinder in dieser Form finden konnte.
Die Technik ist vorangeschritten. Gibt es heute Alternativen zur Blindenschrift?
Chrzanowski: Heute spielen Mobiltelefone eine riesengroße Rolle. Sie sind zum ersten Hilfsmittel überhaupt geworden. Die Geräte können heute alle sprechen, sie haben synthetische Stimmen. Ich kann das System steuern und mithilfe der Sprache gut kontrollieren. Zu Zeiten von Louis Braille musste jemand erst einmal einen Text in Blindenschrift übertragen. Heute bekomme ich einen Brief, halte mein Handy darüber und schon wird er mir vorgelesen.
"Heute bekomme ich einen Brief, halte mein Handy darüber und schon wird er mir vorgelesen"
Aber wenn es zum Beispiel um Bücher geht, ist auch die Qualität der Sprache wichtig. Dazu braucht es mehr, als einmal über den Text zu gehen. Nötig sind weiter Korrektoren - auch wenn heute Texte eingescannt und dann in Blindenschrift übertragen werden. Rechtschreibung ist ein bedeutendes Thema, dann reicht es nicht, sich nur am Klang zu orientieren. Deshalb spielt die Blindenschrift bis heute eine wichtige Rolle, ebenso wie das Lernen der lateinischen Buchstaben in der ersten Klasse für Sehende.
Also hat die Braille-Schrift Alleinstellungsmerkmale?
Chrzanowski: Louis Braille war auch ein begeisterter Musiker und suchte nach Wegen, wie man auch Noten darstellen kann. Mit der Blindenschrift eröffnen sich Welten, die ich als Blinder selbst begehen kann - ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Es gibt eine Mathematik- und eine Chemieschrift, die man sich nie mündlich merken könnte. Die muss man halt unter seinen Fingerkuppen haben.
Heute spielen Computer eine wichtige Rolle. Die Tastatur hat eine Blindenschriftzeile. Da kommen aus der Zeile die Punkte hervor, die durch die Technik hervorgehoben werden. Zum einen gibt es Textbücher in Blindenschrift. Zum anderen nutzen die blinden Kinder dieselben Textbücher wie die sehenden, aber sie bekommen diese als E-Book. Dieses E-Book wird dann auf die Blindenschriftzeile gesendet. Zusätzlich kann man auch die Sprache hörbar machen.
Die abnehmende Lesekompetenz von Kindern wird häufig beklagt. Gilt das auch für blinde Kinder?
Chrzanowski: Das ist bei Blinden vielleicht noch extremer. Andere Kinder sehen ab und zu noch auf ihrem Handy ein Wort und wie es geschrieben wird - manchmal zufällig. Aber diesen Blick haben Blinde eben nicht. Die Digitalisierung bietet einen großen Vorteil. Alle blinden Menschen sind wahnsinnig froh, dass heute Computer auch Programme für blinde Menschen beinhalten und inklusiv sind. Aber diese Vereinfachung verwöhnt, sodass mancher sich fragt, wozu brauche ich noch die Finger zum Lesen? Es gibt große Diskussionen darüber, welche Bedeutung die Blindenschrift noch hat.
Sie sind selbst erblindet, wie empfinden Sie das persönlich?
Chrzanowski: Für mich ist die Blindenschrift eine große Alltags-Hilfe. Ich kann zum Beispiel meine Medikamente selbstständig einnehmen. Die Packungen sind alle auch mit Blindenschrift beschriftet. Für Menschen, die spät erblinden, ist es natürlich eine Herausforderung, die Schrift zu lernen. Die Zahl der geburtsblinden Kinder in Deutschland geht zum Glück zurück. Aber die Altersblindheit nimmt enorm zu. Wenn man älter wird, sind auch die Fingerkuppen nicht mehr so empfindlich, weil sich eine Hornhaut gebildet hat. Da ist es hilfreich, wenn die Technik es ermöglicht, dass Texte vorgelesen werden.
Die Hildesheimer Blindenmission unterstützt Blinde in Südostasien. Wie sieht es denn dort aus?
Chrzanowski: Unsere älteste Schule dort ist gerade 125 Jahre alt geworden. Es war eine Revolution, als Martha Postler die Schule gegründet hat und gleich angefangen hat, Blindenschrift in Chinesisch zu lehren. Denn dort herrschte damals die Einstellung, das sei gar nicht möglich und auch nicht nötig.
Die Einstellung, dass es nicht notwendig ist, dass Kinder eine Schule besuchen und lesen und schreiben können, ist leider immer noch in bestimmten Teilen mancher südostasiatischen Ländern verbreitet, obwohl die Regierungen dort alle sehr bemüht sind. Ich war auf einer sehr einsamen Insel im Norden Sumatras. Dort leben viele blinde Kinder und Jugendliche in Armut, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Das sind noch Zustände, gegen die schon Louis Braille angegangen ist.
Eines unserer Ziele als Hildesheimer Blindenmission ist die Bildung. Denn Bildung beutetet auch berufliche Möglichkeiten. Da spielt die Blindenschrift eine riesengroße Rolle. In Asien ist noch immer der Bettler ein klassischer Blindenberuf. Aber heutige Möglichkeiten sind ganz anders. Unsere Hongkonger Schule ist da großer Vorreiter und hilft jungen Menschen in moderne Berufe. Dazu gehören Call-Center, in denen die Mitarbeitenden über Produkte beraten. Das kann man nur machen, wenn man auch Blindenschrift kann. Das Gleiche gilt für Programmierer. Bei den Programmiercodes muss man sehr genau sein. Dass Kinder die Blindenschrift lernen, bleibt die Nummer eins.