Frau steht vor Kühlschrank mit Gemüse und Fleisch in den Händen
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In der Kolumne "evangelisch kontrovers" diskutiert Alexander Maßmann diesmal, was für und gegen den Konsum von Fleisch spricht.
Kolumne: evangelisch kontrovers
Fleisch essen oder nicht?
Für die meisten Menschen in Deutschland gehört bei einer guten Mahlzeit Fleisch dazu. Die Wirklichkeit der Fleisch-Industrie blenden wir dabei aber lieber aus. Doch sollte man aus moralischen Gründen vegetarisch leben?

Vor etwa zehn Jahren forderten Die Grünen einen wöchentlichen vegetarischen Tag in öffentlichen Kantinen. Prompt reagierte die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile: "Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!" Sowohl auf Seiten derer, die Fleisch essen, als auch derer, die das kritisieren, können die Emotionen hochkochen. Für manche bedeutet Fleisch nicht nur Geschmack, sondern auch elementares Wohlbefinden. Dagegen stehen anderen grauenhafte Bilder aus der Massentierhaltung vor Augen. 

Fleisch essen: Die Bibel und die Realität von heute

Das Fleisch-Essen ist eine sehr alte Frage auch der religiösen Moral. Das erste Buch Mose stellt sich die vom Schöpfer auf Erden intendierte Ordnung so vor, dass Menschen im Einvernehmen mit der Schöpfung vegan leben (1. Mose 1,29). Erst nachdem die Gewalt auf Erden überhand genommen hat, gesteht der Schöpfer den Menschen in einer Art Realpolitik den Fleischverzehr zu (1. Mose 9,3). Industrielle Massentierhaltung war den Autoren dieser Texte natürlich noch unbekannt. Unterdessen erscheint ein universaler Frieden zwischen Mensch und Tier als Hoffnung auf eine Heilszeit, die fast zu schön scheint, um wahr zu sein (Jesaja 11,6–9).

Die Argumente gegen gewohnheitsmäßiges, unkritisches Fleisch-Essen sind bekannt. Tiere werden oft unter erbärmlichsten Bedingungen gehalten. Das Tierfutter, mit dem sie großgezogen werden, beansprucht den Großteil der weltweiten Agrarflächen, doch Tierprodukte decken nur einen kleinen Teil des weltweiten Protein- und Kalorienbedarfs. Zudem werden unschuldige Tiere ohne Not getötet. In den deutschen Schlachtereien geschieht das oft durch osteuropäische Kräfte, die für sehr harte Arbeit nur wenig Geld erhalten. Außerdem ist diese ineffiziente Ernährungsweise für einen sehr beträchtlichen Teil der menschengemachten Treibhausgase verantwortlich – je nach Rechenweise bis zu 51 Prozent. Angesichts dieser Verhältnisse kann man sich nicht mehr unkritisch auf die Erlaubnis zum Fleischverzehr in 1 Mose 9 berufen.

"Flexitarisch essen – weniger Fleisch, aber bewusst?" 

Mehr oder weniger sind uns diese Zusammenhänge klar, und so nehmen sich viele Menschen vor, weniger Fleisch zu essen und zugleich auf höherwertige Produkte zu achten. Etwa 55 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als Flexitarier. Doch das schlägt sich nur begrenzt in der Praxis nieder. Im Durchschnitt denken deutsche Bürgerinnen und Bürger, dass sie weniger als 100 Gramm Fleisch pro Tag essen, doch tatsächlich sind es etwa 150. In den letzten zehn Jahren ist der Fleischverzehr lediglich um 5 Prozent zurückgegangen. "Viele von uns lu?gen sich in die Tasche", schreibt eine Journalistin drastisch

Grund dafür könnte sein, dass unser Verhältnis zum Fleisch insgesamt emotional und weniger rational ist. Wir sind kulturell so geprägt, dass wir Fleisch als Antwort auf elementare Bedürfnisse verstehen. Ein Kulturanthropologe illustriert das so: Auf dem Weg zur Kantine nehmen wir uns vor, zum Salatteller zu greifen, doch sobald wir die Gerichte tatsächlich vor uns sehen, wählen wir dann doch kurzentschlossen das Fleischgericht.  Auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen – mich erinnert das an Römer 7,19: "Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich."

"Vegetarisch oder flexitarisch?"

Ist Fleisch essen tatsächlich das – böse? Sollten wir alle Vegetarier:innen sein? Ich glaube nicht. Ich halte es für unrealistisch, dass wir im vollen Sinne im Einklang mit der Natur leben können. Ich selbst esse zwar kein Fleisch, trinke aber Milch und esse Eier, und damit bin auch ich mitverantwortlich dafür, dass Kühe gewaltsam von ihren Kälbchen getrennt werden und Legebetriebe männliche Hähnchen schreddern. Doch zum veganen Leben kann ich mich nicht durchringen. In der Evolution des Lebens ist Leid allen Spezies tief eingeschrieben, und der längste Schöpfungstext der Bibel, Hiob 38–41, konstatiert nüchtern Gewalt in der Tierwelt (Hiob 39,26–30). Angesichts dessen scheint mir der Unterschied zwischen einem Vegetarier und einer Person, die tatsächlich, mit Disziplin, ihren Fleischkonsum reduziert und auf höherwertiges Fleisch achtet, nicht grundlegend und entscheidend. Hinzu kommt, dass man es in verschiedenen Regionen Deutschlands schwer haben kann, in Restaurants eine ansprechende Auswahl vegetarischer Speisen zu finden.

In der Frage, Fleisch essen oder nicht?, finde ich persönlich es schlicht einfacher, konsequent auf Fleisch zu verzichten. Dann brauche ich in der Kantine oder zu Gast bei Freunden nicht stets abzuwägen, wie viel Fleisch ich tatsächlich esse und ob es aus nachhaltiger Produktion stammt. Aber wenn andere das nach ehrlicher Selbstprüfung anders sehen, respektiere ich das. So oder so befindet sich die deutsche Gesellschaft in einem Übergang. Ich hoffe, dass es für jüngere Generationen immer weniger selbstverständlich ist, mit Fleisch aufzuwachsen, so dass sie es immer weniger vermissen. Dann dürfte sich auch in der Breite unsere emotionale Einstellung zu Fleisch ändern, so dass wir es in der Kantine nicht mehr instinktiv für die befriedigendere Option halten. Damit wir an diesen Punkt kommen, ist aber mehr Ehrlichkeit gerade von den Flexitariern gefragt. Ist diese reflektierte Form der Ernährung noch realistisch für mich, oder fange ich an, mir und meiner Mitwelt etwas vorzumachen? Falls das letztere der Fall ist: Nehmen wir wieder ernster, dass der Fleischverzehr eine der ganz alten, ernsten Fragen der religiösen Traditionen ist.