Bei einem seiner jüngsten Berggottesdienste wollte Gästeseelsorger Roland Sievers aus Oberstdorf im Allgäu wissen, wer zum ersten Mal eine Gipfelandacht erlebt hat. "Etwa die Hälfte hat die Hand gehoben", sagt der Pfarrer. Für ihn ein Zeichen, dass trotz Mitgliederschwund die Glaubensbotschaft der Kirchen gefragt ist: "Es gibt eine gewisse Neugier, sich darauf einzulassen."
Oft erzählten ihm Menschen nach dem Gottesdienst mit Panoramablick, was sie in ihrem Leben gerade bewegt. "Ihnen zuzuhören und ihre Anliegen in einem Segen zu bündeln, empfinde ich als lohnenswerte Aufgabe", sagt Sievers.
Die evangelischen Gemeinden von Oberstdorf, Fischen und dem Kleinwalsertal bieten allein in diesem Sommer über 150 spirituelle Angebot am Berg und im Tal an. Der Einsatz lohnt sich: Laut Allgäu GmbH verzeichneten die drei Orte 2019 rund 1,2 Millionen Gäste - damit zählt die Region zu den Top-Urlaubsorten in Bayern.
Thomas Roßmerkel, Tourismusbeauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, verweist auf eine Studie aus Schleswig-Holstein, wonach rund 30 Prozent der Erholungssuchenden spirituelle Angebote der Kirchen wahrnehmen.
"Das ist in Bayern sicher ähnlich - somit erreichen wir bei 40 Millionen Gästen im Jahr rund 12 Millionen Menschen", betont der Tourismus-Chef der Landeskirche.
Locker und nicht so traditionell
Gerade im Urlaub seien die Menschen "sehr ansprechbar" - auch wenn sie gerade aus der Kirche ausgetreten seien. "Die Fragen der Menschen bleiben auch nach einem Austritt", sagt Roßmerkel.
Simone Hilbert Hegele aus der evangelischen Gemeinde Mittenwald kann das bestätigen. Seit Jahren bieten die Protestanten am Fuße des Karwendelmassivs von Juni bis Ende September Urlaubergottesdienste an. "Manche suchen das bewusst, andere kommen zufällig und finden es toll, dass Kirche im Grünen lockerer und nicht so traditionell ist", sagt die Pfarrerin. Ihr Lieblingsort dafür ist die Kapelle Maria Königin am Lautersee: "Der See ist umgeben von den hohen Gipfeln, das ist ein tolles Panorama", sagt Hilbert Hegele - ideal für alle, die es nicht so hoch mögen.
Feiern auf dem Dach Deutschlands
Ein paar Kilometer weiter gibt es dazu das Kontrastprogramm: Nach zwei Jahren Coronapause nehmen Pfarrerin Ulrike Wilhelm und ihre Kollegen jeden Dienstag bei gutem Wetter die Zugspitzbahn hinauf zum Platt am Schneeferner, um auf 2600 Metern Höhe in der Kapelle Mariä Heimsuchung mit der bunt gemischten, oft internationalen Zufallsgemeinde Gottesdienst zu feiern.
"Konfession, Kirchenzugehörigkeit oder Religion spielen auf der Zugspitze keine Rolle", sagt die Garmischer Pfarrerin. Die Menschen seien hier oben, an Deutschlands höchstgelegenem Gotteshaus, "weich und dankbar und sehr offen für Sinnsuche". Obwohl die Zahlen der Zugspitzbahn noch nicht wieder das alte Niveau erreicht hätten, wirke sich das nicht auf den Besuch des Zugspitzgottesdiensts aus. "Wenn man werbend im Talar vor der Kapelle steht und die Glocke läutet, strömen die Menschen", sagt Ulrike Wilhelm. Sie ist überzeugt, dass Kirche generell mehr zu den Menschen gehen müsse: "Da ist ein Potenzial, das wir bislang überhaupt nicht ausschöpfen."
In jedem Fall böten Berggottesdienste vielen Menschen einen niederschwelligen Zugang zum Glauben, sagt auch Roland Sievers aus Oberstdorf. Die grandiose Natur selbst sei die Botschaft, da reichten ein bekannter Choral, ein gutes Predigtwort oder ein Gebet, um den Menschen etwas mit auf den Weg zu geben. "Wenn bei unserem Tagerwachen-Gottesdienst am Walmendingerhorn die Sonne aufgeht: Was soll man da noch groß sagen?", findet der Gästeseelsorger.