Gottesdienst mit Fernblick
Foto: Claudius Grigat
Gottesdienst mit Fernblick
Mit der Seilbahn zu den Himmelsschätzen
Kommt man bei einem Berggottesdienst dem Himmel näher?
Klar, ein Gottesdienst muss nicht immer in der Kirche sein. Aber auf einem Berg? Was macht einen Berggottesdienst aus? Lohnt es sich, für den "Kirchgang" in Wanderstiefel und Windjacke zu schlüpfen? Ein Selbstversuch im Oberallgäu.

"Ich warte wohl besser auf die nächste…!" Mit diesen Worten bleibt der junge Mann zurück, während ich in die Seilbahnkabine zu dem Pärchen steige. Erst, als wir losschweben, sehe ich seinen Riesenrucksack: Der darin verpackte Gleitschirm braucht tatsächlich eine Gondel für sich. Lange anstehen musste ich nicht an diesem Samstagvormittag. Um kurz nach halb elf habe ich meinen Wagen zwar an langen Reihen parkender Autos vorbei gelenkt und ganz hinten auf dem Parkplatz der Talstation der Bolsterlanger Hörnerbahn abgestellt. "RSA, der Allgäusender" aber hat für den ganzen Tag strahlenden Sonnenschein vorhergesagt, da sind um diese Uhrzeit die allermeisten Menschen schon auf dem Berg. Auch die Gleitschirmflieger. In der Nähe der Mittelstation bei der Alpe Ornach sammeln sie sich: Von oben leuchtende Flecken in allen Farben. Rot, Blau, Orange und Lila auf grünem Untergrund. Einer nach dem anderen heben sie ab. Ein paar Schritte Anlauf und dann faltet sich das Tuch an seinen Seilen auf und schraubt sich augenblicklich in den Himmel.

Die Frau gegenüber schreit kurz auf: Soeben hat sie ein dicker schwarzer Käfer überraschend daran erinnert, dass wir mit unserer Seilbahn auf dem Weg in die Natur sind. Er muss durch die Dachluke herein gekommen sein, bevor er ihr wie ein kleiner dunkler Kiefernzapfen auf das nackte Knie fällt.

Als wir wenig später aussteigen, hat er sich schon wieder verkrümelt. Von der Bergstation auf 1.540 Metern Höhe sind es nur noch wenige Schritte, dann eröffnet sich das ganze Panorama im gleißenden Sonnenlicht: im Süden in der Ferne die silbrigen Felszacken des Allgäuer Alpenhauptkamms, etwas näher die grünen Flyschgesteinriesen im Talschluss. Richtung Westen das sanfte Bolgental, ganz nah zwischen den Bäumen das Berghaus Schwaben. Und direkt davor am Weidezaun: Ein wettergraues Holzkreuz, angebracht an einem Baumstumpf, auf den eine Sperrholzplatte geschraubt ist. Darauf ein weißes Tuch, ein großes Windlicht und Kelch und Schale. Außerdem Biertische und rote Sonnenschirme. Sogar ein paar Liegestühle stehen bereit. Und Gästepfarrerin Angelika Zädow, im schwarzen Talar.

Empfindet man hier oben intensiver?

"Gott in der Höh sei Preis und Ehr" – so heißen die Liederbüchlein, die auf den Plätzen verteilt ausliegen. Bin ich Gott mit der Seilbahnfahrt schon ein Stückchen näher gekommen? So grüble ich noch, als um Punkt elf Gästekantor Detlev Bahr in Aktion tritt.

Pfarrerin Zädow vor Bergpanorama.

Der freundliche Mann mit Bart und Baseballcap drückt beherzt die Tasten an seinem kleinen Keyboard. Leicht vom Winde verweht kommen die Töne herüber. Sie treffen auf den verhaltenen Gesang von rund 30 überwiegend älteren Gottesdienstbesucherinnen und –besuchern: "Morgenlicht leuchtet…" – die Übertragung von Cat Stevens' "Morning has broken". Frau Zädow steht auf, ihre Silhouette zeichnet sich schwarz im Gegenlicht ab. Irgendwie passt sie perfekt in die Szenerie, trotz oder gerade wegen ihrer Amtstracht. Passend zum Eingangslied auch der Psalm, den sie spricht: "Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat…" Ja! denke ich spontan. Und es fällt mir umso leichter, beim nächsten "Gassenhauer" mit einzustimmen: "Geh' aus mein Herz…" Dazu der Duft nach Tannen, ferne Kuhglocken, sanfter, kühler Wind und die Licht- und Schattenspiele von kleinen Wölkchen am ansonsten makellos blauen Himmel. Erneut schweifen meine Gedanken ab: Empfindet man hier oben intensiver? Was haben wir zuvor gemeinsam aus Psalm acht gesprochen? "Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel!"

Und prompt merke ich, dass der Lesungstext, der zugleich auch Predigttext ist, meine Gedanken abholt und weiter führt. Es geht um Matthäus 6, 19 ff: "Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel…"

Pfarrerin Zädow denkt laut nach. Mit klarer und kräftiger Stimme reflektiert sie die geradezu greifbaren Schönheiten der Natur ringsum. Die Sonnenstrahlen verbreiten wohlige Wärme, ein Windstoß fährt in die nahen Bäume und eine Bergdohle stürzt sich leise kreischend in die Tiefe. Mir wird bewusst, wie sehr die Umgebung bei solch einem Gottesdienst die Wahrnehmung der Inhalte unterstützen kann. Angelika Zädow fragt laut in die Bergluft, was wohl mit den "Himmelsschätzen" gemeint sein könnte. Ihre Überzeugung: ein unvergänglicher Schatz im Himmel kann nur eine Form von Gottes Geist sein. Und den wünscht sie den Menschen auf den Bierbänken für all ihre Erlebnisse und Vorhaben. Sei es für die noch bevorstehende Wanderung am heutigen Tag – oder auch für die nächste schwierige Aufgabe im Leben und den weiteren Weg danach.

So könnten alle diese Dinge zu Himmelsschätzen werden

Erst jetzt, während des nächsten Zwischenspiels auf dem E-Piano von Gästekantor Bahr, fällt mir auf, dass die Seilbahn immer noch unaufhörlich summt. Monoton und sonor, ein Ton, der wie eine Grundierung für die ganze Szene wirkt. Als ich wieder aufsehe, ist das Abendmahlsgerät abgedeckt.

Altar und Sonnenschirm gehören zusammen.

Und nun, eingereiht im Halbkreis um den Altar, entdecke ich die vielen kleinen Bahnen, die der Holzwurm im Altarkreuz hinterlassen hat - als hätte er noch einmal die Lesung kommentieren wollen, als Variation zu Motten und Rost. Wir tauchen die Oblate in den Gemeinschaftskelch – hier oben nicht nur die einfachste Variante, sondern auch eine, die Verbindung schafft.

Im Anschluss ein Gebet aus Indien: "Herr gib mir einen neuen Himmel und eine neue Erde." Einen Himmel und eine Erde randvoll mit Himmelsschätzen? Eine schöne Vorstellung, denke ich. "Gib mir, dass ich alle Dinge in Christus sehe, Bäume und Felder, Berge und Seen, Wohnstätten und Arbeitsplätze, Tiere und Menschen." So könnten alle diese Dinge zu Himmelsschätzen werden. "O mein Gott, mache aus mir einen dankbaren Menschen! Amen." Beim Segen fährt erneut eine Windböe in die Bäume und der Gemeinde durch die Haare. Sie nimmt auch die ersten Zeilen des Schlusslieds mit: "Bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns auf unsern Wegen…"

Und dann Allgäu-Currywurst mit Röstitaler

Es ist kurz vor Zwölf und Angelika Zädow entlässt die Wanderer und Bergsteigerinnen auf ihre geplanten Wege.

Von der Restaurantterrasse der Seilbahnstation zieht jetzt ein wenig Rauch herüber: Der Grill wird angeworfen, gleich gibt es die beliebte "Allgäu-Currywurst" mit Röstitaler für 7,50 Euro. Ich bin alleine in der Gondel, als ich wieder nach unten fahre. Klar, Gleitschirmflieger werden hier oben wohl kaum zusteigen. Und da sehe ich sie: Drei, vier, nein, sechs bunte Gleiter auf einmal, wie sie vor den wuchtigen Massiven von Entschenkopf und Rubihorn auf der anderen Talseite ihre Spiralen in der Luft beschreiben. Für sie hat der Begriff "Himmelsschätze" gewiss auch eine besondere Bedeutung.

Dieser Text wurde erstmals am 9. Oktober 2013 auf evangelisch.de veröffentlicht.