Jeder Glockenschlag steht für ein Leben. 54 Mal füllt ein heller, nachhallender Ton die Herz-Jesu-Kirche im Stadtzentrum von Euskirchen. Ein Glockenschlag für jeden Menschen aus Nordrhein-Westfalen, der vor einem Jahr bei der Hochwasserkatastrophe gestorben ist und stellvertretend für die vielen weiteren Toten an der Ahr.
Trauer und Klage, aber auch Dank für Unterstützung - viel schwingt mit an diesem Jahrestag in der mit 500 Menschen gefüllten katholischen Stadtkirche. "Viel mehr als man in Worten fassen kann", sagt eine Frau, die den ökumenischen Gottesdienst am Donnerstagabend in sich gekehrt aus einer der vorderen Bänke verfolgt. Sie hat ihre Mutter in der Hochwassernacht verloren.
Die NRW-Landesregierung hatte sie wie alle Angehörigen von Opfern aus NRW persönlich eingeladen. "Die Gemeinschaft tröstet mich", sagt sie. "Die Musik, die Nachdenklichkeit und vor allem die vielen Augenblicke der Stille" im Gottesdienst täten ihr gut. Ein Mann neben ihr in der Bank, auch ein Angehöriger, nickt zustimmend. Der Schmerz verbindet die beiden, und der Trost auch.
Superintendentin Claudia Müller-Bück vom Evangelischen Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel zeigt Verständnis für Angehörige, die trotz Einladung nicht am zentralen Gedenkgottesdienst teilnehmen. "Diese Orte der Begegnung und des Miteinanders in der Nachbarschaft, mit den Familien sind mindestens so wichtig wie die hochoffiziellen Gedenkfeiern." Beeindruckend viel Hoffnung und Zuversicht erlebt sie bei den Menschen, "aber auch viel Erschöpfung und Leere" nach all den Anstrengungen der vergangenen zwölf Monate. "Wir müssen uns Zeit geben, dass die Seele hinterherkommt."
In dem Gottesdienst unterstreicht der rheinische Präses Thorsten Latzel, dass Hilfen und persönliche Anteilnahme weiter wichtig blieben. "Es ist wichtig, sorgsam zuzuhören. Hinzuhören auf das, was die Menschen sehr Verschiedenes erfahren haben", sagt der evangelische Theologe in seiner Predigt. Die Flutkatastrophe habe an jedem Ort ein "anderes Gesicht" gehabt. Für Außenstehende sei nur schwer zu begreifen, was die Flut für die Betroffenen bedeute und wie sie das Leben seitdem verändert habe.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnt nach dem Gottesdienst weitere unbürokratischer Hilfe für die Flutgebiete an. Er könne sich vorstellen, dass viele Menschen "das Gefühl haben, dass vieles zu lange dauert, zu langsam vorangeht". Dennoch sei sichtbar, was die Menschen trotz des unermesslichen Schmerzes und der Verzweiflung angesichts der vielen Verluste beim Wiederaufbau geleistet hätten, "und davor habe ich enormen Respekt."
Ministerpräsident Wüst kündigt an, das Land NRW werde einen Gedenkort mit einem Baum für jeden der 49 Toten in Nordrhein-Westfalen errichten. Weitere Menschen aus NRW waren in Rheinland-Pfalz gestorben. Die Katastrophe im vergangenen Sommer sei "ein Einschnitt in der Geschichte unseres Landes", sagt der Ministerpräsident. Wie der Bundespräsident dankt auch Wüst für die große Solidarität und Hilfsbereitschaft von Menschen aus ganz Deutschland.
Auch zehn Seelsorgende, darunter eine Muslima, sind in der Herz-Jesu-Kirche, immer gut zu erkennen mit ihren lila-bunten Jacken. Einige lesen Fürbitten, andere schauen mit wachem Blick, ob von der Trauergemeinde jemand persönliche Hilfe oder Trost benötigt. Der Kölner Generalvikar Monsignore Guido Assmann erklärt, Worte wie Angst, Lähmung, Verzweiflung seien eigentlich noch zu schwach, um das Geschehene zu beschreiben.
Superintendentin Claudia Müller-Bück vom Evangelischen Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel zeigt Verständnis für Angehörige, die trotz Einladung nicht am zentralen Gedenkgottesdienst teilnehmen. Sie verweist darauf, dass in allen betroffenen Kommunen zum Jahrestag ökumenische Andachten und Versammlungen gibt.
So auch in der Euskirchener Innenstadt. Hier ist Gregor Weichsel, evangelische Pfarrer in Euskirchen, bei einer öffentlichen Gedenkstunde der Stadt in einem Park hinter dem seit der Flutnacht geschlossenen "City-Forum". "Jedes Gewitter löst auch bei mir neu Ängste aus", sagt der Pfarrer. Er habe seit dieser traumatischen Nacht "ein angespanntes Verhältnis zu Dauerregen und großen Pfützen".
Genau zu der Zeit, als vor einem Jahr das Wasser immer weiter stieg, legen die Menschen hier Blumen nieder. Und wieder läuten die Glocken, dieses Mal aller Kirchen. "Wir wollen weiter für die Menschen da sein", sagt Pfarrer Weichsel und findet: "Die Menschen sind in der Katastrophe zusammengerückt und das ist geblieben."
Gedenken vielerorts
An vielen Orten der Flutgebiete gibt es an diesem Tag Gedenkveranstaltungen. In Bad Neuenahr erinnerte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) an die 135 Fluttoten aus Rheinland-Pfalz und die zwei bis heute vermissten Menschen. Sie versicherte den Betroffenen im Ahrtal, dass die Region wieder aufgebaut werde. Inzwischen gebe es bereits wieder zahlreiche "Lichtblicke". Der Aufbauwille der Talbewohner zeige auch deren außerordentliche Heimatliebe, erklärte die Regierungschefin bei der Gedenkfeier, zu der auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angereist war.
Steinmeier hatte zuvor das stark betroffene Ahrtal besucht. Bei seinem letzten Aufenthalt habe er versprochen, die Betroffenen nicht zu vergessen, sagte Steinmeier: "Auch deshalb bin ich heute hier, dieses Versprechen einzuhalten, zu sehen, was ist vorangekommen, wo fehlt es noch, und Danke zu sagen."
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatten zuvor an einer weiteren Gedenkstunde in Euskirchen teilgenommen. Naturkatastrophen werde man auch in Zukunft nicht verhindern können, erklärte Faeser. "Aber besser vorbereitet können wir sein, und darum geht es dieser Tage." Das sei grade angesichts der veränderten Klimabedingungen wichtig.