Mit dem epd sprach der evangelische Theologe über das Ende alter Gewissheiten, die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft und den Charme des Reisens mit wenig Gepäck.
epd: Herr Meister, wir stehen am Rande einer Wirtschaftskrise, sogar Menschen, die vorher einigermaßen sorgenfrei gelebt haben, müssen den Euro zweimal umdrehen. Bei allen Härten, die das mit sich bringt: Birgt diese Situation wenigstens die Chance, dass wir nicht nur sparsamer, sondern auch nachhaltiger werden?
Bischof Ralf Meister: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist der denkbar schlimmste Katalysator für eine Veränderung von Haltungen und Einsichten. Und es gibt nichts, was so sinnlos Ressourcen vernichtet und jeder Art von Nachhaltigkeit zuwider läuft wie ein Krieg. Die Menschen in der Ukraine erleben das jeden Tag in einer Art und Weise, die wir uns nicht vorstellen können.
Aber es stimmt: In dieser Krisenzeit werden wir auf die Notwendigkeit gestoßen, maßzuhalten. Unsere Abhängigkeit von Ressourcen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen und von Erzeugnissen, die unter hochproblematischen Umwelt- und Menschenrechtsbedingungen hergestellt werden, wird uns jetzt direkt vor Augen geführt - auch wenn wir das natürlich schon vor der Krise wussten.
Was macht denn jetzt, in der Krise, den Unterschied?
"Der Strom kommt nicht einfach so aus der Steckdose und das Brot nicht einfach so vom Bäcker."
Meister: Unser ziemlich abstraktes Wissen um die Endlichkeit unserer Ressourcen wird angesichts von Krieg und Krise zu einer sehr konkreten Erfahrung. Wir erleben gerade überall im Alltag, dass scheinbar selbstverständliche Lebensgrundlagen alles andere als selbstverständlich sind: Der Strom kommt nicht einfach so aus der Steckdose und das Brot nicht einfach so vom Bäcker. Auch die Erfahrung durchfrorener Winter, an die sich gerade noch die 80-, 90-Jährigen erinnern, ist auf einmal kein rein gedankliches Szenario mehr.
Haben Sie wirklich Hoffnung, dass die Menschheit - zumindest der Teil, der im Überfluss lebt - jetzt endlich Ernst macht mit dem nachhaltigeren Leben?
Meister: Ich bin überzeugt, dass schon in den letzten Jahren immer mehr Menschen verstanden haben, dass es kein "Weiter so" geben kann. Derzeit besuche ich viele Gemeinden unserer Landeskirche, die sich besonders für Klimaschutz und Nachhaltigkeit engagieren. Beeindruckend, was da auf die Beine gestellt wird - das reicht vom eigenen Windrad, über Feuchtbiotope bis hin zum großflächigen Einsatz von Photovoltaik.
"Auf einmal ist das Thema Umweltschutz Teil des Dorfgesprächs."
Oft entfalten solche Projekte einen regelrechten Sog. Die Kirchengemeinde geht mit einem Klimaschutzprojekt voran, die Kommune unterstützt es oder zieht mit eigenen Initiativen mit - oder umgekehrt. Auf einmal ist das Thema Umweltschutz Teil des Dorfgesprächs. Und mit ihm die Frage: Was können wir konkret tun, um bewusster und im Einklang mit der Schöpfung zu leben?
Gerade jetzt wird es aber auch viele Menschen geben, die vor Sorge, die Stromrechnung nicht zahlen zu können, wohl kaum über die Rettung der Erde nachdenken ...
Meister: Eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu wirksamem Klimaschutz muss immer sozial abgesichert sein, um den sozialen Frieden zu wahren. Die Solidargemeinschaft ist hier gefordert, gezielte Hilfe für in Armut lebende Haushalte zu leisten. Und das wird nicht nur über staatliche Zuwendungen geschehen können. Veränderungen und Sparmaßnahmen müssen bei den Besserverdienenden ansetzen, nicht bei den Schwächsten der Gesellschaft.
Wie konkret können die Kirchen mithelfen, die Krise zu schultern und darüber hinaus zu einer sozial-ökologischen Wende beitragen?
Meister: Wir müssen unsere Ressourcen - Gebäude, Liegenschaften, Netzwerke, Personal, Geld - noch gezielter einsetzen. Das, was wir haben, gehört nicht uns und hinter Kirchenmauern. Ein Beispiel: Worum sollte ein Gemeindehaus nicht auch Vereinen, Bürgerinitiativen und anderen Gruppen im Dorf oder Stadtteil ein Dach bieten? Lieber ein Gebäude intensiv nutzen, als drei wenig genutzte gleichzeitig heizen zu müssen.
Zudem kann die Kirche einiges zur Debatte beitragen: Überall in den Gemeinden, ob nun im Gospelchor, beim Gemeindefest oder der Arbeitsgruppe für öko-faire Beschaffung gibt es Raum für die Frage: Wie stellen wir uns ein sinnvolles Leben vor? Vieles von dem, was auch zur Klimakrise beiträgt, etwa, viel zu konsumieren und viel zu besitzen, wird kritisch infrage gestellt. Mit dieser Haltung und der Einsicht, dass weniger mitunter tatsächlich mehr ist, fängt der Wandel an.
Fürchten Sie nicht, dass nach dem Ende von Krieg und Krise eine Rückkehr zum alten Status quo erfolgt, also: Wohlstand und Wachstum als wesentliche Treiber unseres Handelns?
Meister: Das klingt mir zu sehr nach Kapitalismuskritik. Ich sträube mich, das so plakativ zu sehen. Ich frage mich lieber, was kann ich, was kannst du tun? Ein Anfang wäre, wenn wir uns bei allem, was wir anschaffen oder konsumieren, fragen, ob wir es wirklich brauchen - die vielen Klamotten, die Flugreisen oder jährlich ein neues Smartphone, in dem neben seltenen Erden und etlichen Giftstoffen auch viel Kinderarbeit stecken kann. Jede Anschaffung ist ein mehr oder weniger großes CO2-Desaster.
Was sagen Sie eigentlich zum Neun-Euro-Ticket, das vor allem die Schwächsten entlasten soll?
Meister: Das befürworte ich sehr. Dazu gehören aber auch zwingend Investitionen in die Infrastruktur, damit so ein Ticket wirklich flächendeckend nutzbar ist. Das Ticket bietet dann dauerhaft die Chance, dass Autos weniger genutzt werden und ärmere oder große Familien die Möglichkeit bekommen, Bahnreisen zu machen, die für sie sonst unerschwinglich wären. Es sollte überlegt werden, wie dieses Angebot aufrechterhalten werden kann, um Ärmeren weiterhin diese Teilhabe zu ermöglichen.
Da Sie von überflüssigen Anschaffungen abraten: Was brauchen Sie nicht wirklich?
"Nach meiner Pensionierung werde ich sicher Carsharing machen."
Meister: Neben den vielen kleinen und größeren Dingen, die sich zu Hause ansammeln - Wohnaccessoires, kaum genutzte Möbelstücke, vergessene Kellerschätze - ist es wohl ein eigenes Auto. Noch bin ich dienstlich an einen Wagen gebunden. Aber nach meiner Pensionierung werde ich sicher Carsharing machen.
Die Ferienzeit startet. Reisen Sie als Verfechter des Maßhaltens eigentlich mit leichtem Gepäck?
Meister: Ich erinnere mich an vierwöchigen Urlaub, in dem wir als fünfköpfige Familie gerade mal zwei Koffer ins Auto bekommen und Urlaub in einer winzigen Ferienwohnung gemacht haben. Auf der Hinfahrt haben wir uns etwas besorgt gefragt, ob wir wenigstens das Nötigste eingepackt haben. Auf der Rückreise waren wir erholt und glücklich wie selten nach einem Urlaub, weil die Wochen mit so wenigen Dingen so herrlich unbeschwert waren!