Anwohnerin geht mit Gepäck an beschädigtem Wohnhaus vorbei
© Victor/Xinhua/dpa
Eine Anwohnerin geht mit Gepäck an einem beschädigten Wohnhaus in Mariupol vorbei. Die ukrainische Hafenstadt ist inzwischen beinahe vollständig von russischen Truppen erobert. Anna, eine Studentin aus Russland, fühlt sich den Menschen in der Ukraine sehr nah.
EINE STIMME AUS RUSSLAND
Eine Passionszeit, die nicht endet
Anna* kommt aus Russland und ist Studentin. Sie hat einen engen Bezug zu Europa. Umso mehr hat sie der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert. Auf evangelisch.de berichtet sie regelmäßig von ihren Eindrücken und Erlebnissen.

Als ich ein Kind war und zur Russischen Orthodoxen Kirche gehörte, war die Passionszeit immer die anstrengendste Zeit für mich. In der orthodoxen Tradition werden diese Tage und vor allem die Karwoche sehr emotional empfunden. Man fastet von allem - natürlich vom Essen, aber auch vom Fernsehen. In manchen Häusern wird der Bildschirm mit einem dunklen Tuch verhängt.

Wenn ich mich nicht irre, war der einzige Film, den wir uns damals ansehen durften, Mel Gibsons "Passion Christi". Ein Bild nicht für Kinder, muss ich sagen. Aber ich habe ganz früh verstanden (viel früher, als ich begann, die Erwachsenen nach dem Ursprung dieser Traditionen zu fragen): das ist die Zeit, wenn man kein Spaß haben darf. Weil Jesus ermordet wurde. Ich war mir wirklich sicher, dass wenn ich laut lachen oder einen Schokoriegel essen würde, würde etwas Schreckliches passieren. Denn zu dieser Zeit ist Satan besonders aktiv darin, Menschen zu versuchen.

Über die Natur dieser Wahrnehmung von Fasten und religiösen Traumata lässt sich lange spekulieren. Ich selbst kann meine Vergangenheit nicht immer klar beurteilen und sie in meine Gegenwart integrieren. Aber ich erinnere mich ganz gut an dieses Gefühl während der Karwoche, an diese Unsicherheit und Angst vor etwas Unsichtbarem und Furchtbarem, was ganz nah auf mich wartet. Ein kleiner Fehler – und alles wird kaputt gehen.

Die Passionszeit hatte für mich damals nur einen Vorteil: ich wusste, dass sie immer mit Ostern endet. Unbedingt. Jedes Jahr. Man musste nur warten und Tage zahlen, und dann begann das normale Leben wieder.

"Man vergisst, dass man anders leben konnte"

Was ich in den letzten Wochen erlebe ist wie eine Passionszeit ohne Ende. Dasselbe trübe Gefühl, dieselbe Hilfslosigkeit. Manchmal denke ich, vielleicht habe ich mich an diesen Krieg gewöhnt.

Ich bekomme nicht jedes Mal Panikattacken, wenn ich Nachrichten lese. Wenn ich schlafe, sehe ich Leichen in meinen Alpträumen viel seltener als vor einem Monat. Aber das ist eine Illusion. Man kann sich nie an so was gewöhnen. Man vergisst aber, dass man irgendwie anders leben konnte – ohne schreckliche Nachrichten als Alltagsroutine, ohne Angst.

Genau wie damals, als ich als Kind auf Ostern wartete, fühle ich mich schuldig, wenn ich Spaß habe. Weil dort, in der Ukraine, Menschen sterben. Als ob ich ihnen helfen könnte, wenn ich auch leiden würde.

"Das ist viel zu nah, viel zu verständlich"

Natürlich gibt es Kriege immer und überall. Jeden Tag werden Leute ermordet. Aber die Ukraine hat eine Eigenschaft, die ihre Tragödie noch schmerzhafter macht. Sie ist Russland unglaublich ähnlich. Ich weiß, wie die Städte und Wohnungen dort aussehen – nicht aus Büchern oder Internet, sondern weil ich selbst in so einer Stadt und so einem Haus wohne.

Ich weiß, wie man dort miteinander kommuniziert, weil ich dieselbe Sprache spreche – ja, Russisch ist in der Ukraine immer noch sehr verbreitet, das ist eine lingua franca im ganzen postsowjetischen Raum. Ich weiß sogar, welche Blogger und Bands dort populär sind, denn kulturell sind wir alle immer noch verbunden. Und ich kann mir deswegen viel zu krass vorstellen, was wäre, wenn so was mit mir selbst passieren würde. Das ist viel zu nah, viel zu verständlich.

Einer der in Butscha getöteten Zivilisten trug dunkelblaue Sportschuhe mit weißen Sohlen. Ganz ähnliche hat mein Bruder. Er war überhaupt meinem Bruder ähnlich – ein großer junger Mann mit dunklen Haaren…

"Nicht schweigen, nicht verbergen, nicht vergessen"

Auf Instagram folge ich einer Fotografin, die jetzt in der ukrainischen Armee dient. Ich habe mir ein Video angesehen, in dem sie übt, wie man mit einem Gewehr schießt. Ein anderer Soldat gibt ihr Ratschläge. Beide kommunizieren auf Russisch.

Ich schaue mir Videos an, die meine Freunde aus der Ukraine reposten. Dort freuen sich ukrainische Soldaten darüber, dass sie russische Panzer ausschalten und russische Helikopter abschießen. Ist das schrecklich? Natürlich. Aber ich kann, ich darf diese Leute nicht beschuldigen. Könnten sie sich irgendwie anders benehmen, nach allem, was mit ihrem Land passiert ist?

Ja, ich kann immer noch nicht begreifen, dass so ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine möglich war. Aber ich weiß, dass es irgendwann und irgendwie endet. Die Passionszeit kann nicht ewig dauern. Waffen hören auf zu schießen, Menschen hören auf, sich gegenseitig umzubringen. Aber ich werde bis zum Ende meiner Tage für das verantwortlich sein, was passiert ist. Wie ein Mensch mit russischem Pass. Jedes Mal, wenn die Leute diesen Pass sehen oder meinen Namen hören werden, werde ich ihnen erklären müssen, was ich damals machte, wie ich mich fühlte, worauf ich hoffte. Und ich verstehe, dass dies eine Art von Mission ist: nicht zu schweigen, nicht zu verbergen, nicht zu vergessen. Ehrlich zu sein, auch wenn es weh tut.

*Anna heißt eigentlich anders. Zu ihrem Schutz hat die Redaktion ihren Namen geändert.