Hinweisschild auf leeren Supermarktregalen in Russland
© Igor Russak/dpa
"Es ist wichtig, dass es genug Waren für alle gibt. Wir sind gezwungen, vorübergehend Beschränkungen für stark nachgefragte Waren zu verhängen. Bis zu zehn Stück pro Einkauf" - ein Hinweis an einem Regal des Lenta-Stores , eines Lebensmittelgeschäfts in St. Petersburg in Russland.
EINE STIMME AUS RUSSLAND
Warum Russland noch nicht rebelliert
Anna* kommt aus Russland und ist Studentin. Sie hat einen engen Bezug zu Europa. Umso mehr hat sie der russische Angriff auf die Ukraine erschüttert. Auf evangelisch.de berichtet sie regelmäßig von ihren Eindrücken und Erlebnissen.

Der März ist ein hektischer Monat. Heute scheint die warme Sonne, und morgen kann es wieder schneien. Man weiß nie, was kommen soll. Es ist nicht klar, ob der Frühling schon da ist oder es begann nur Tauwetter vor den neuen frostigen Tagen.

Der Konflikt in der Ukraine dauert schon fast drei Wochen, und jeden Tag gibt es neue Hoffnungen und neue Enttäuschungen. In der letzten Zeit ist vieles passiert, aber ich glaube, die Folgen davon haben uns noch nicht ganz betroffen. Man wartet ungeduldig auf die unklare Zukunft und weiß nicht, was sie bringen wird.

Wirtschaftswissenschaftler sprechen von einem nahenden Zahlungsausfall. Ich bin keine Expertin in diesem Thema, kann also keine weitläufige Analyse wirtschaftlicher Prozesse geben. Aber ich sehe schon, wie die Preise in den Geschäften steigen. Meine Freunde schicken einander Bilder von leeren Regalen. Das habe ich natürlich auch zu Beginn der Pandemie gesehen, aber damals war klar, dass es sich hier nur um eine Massenpanik handelt, und es wird kein Defizit geben: Die Wirtschaft ist dazu bereit.

Jetzt bin ich mir aber nicht mehr sicher. Besonders schlimm sieht es bei Damenhygieneartikel aus. Aufgrund von Sanktionen ist der Preis für sie erheblich gestiegen, und in einigen Geschäften war fast das ganze Sortiment ausverkauft. Früher dachte ich an Mehrwegprodukte, weil sie umweltfreundlich sind, jetzt, weil sie sich in ein paar Monaten amortisieren werden.

"Wir werden auch das überleben"

Ich war sicher, sobald es Probleme mit dem Nötigsten gibt, würden die Leute empört sein. Ich dachte, dass sie jetzt auf Demonstrationen gehen, Streiks organisieren und massiv anfangen würden, Frieden zu fordern. Aber das ist nicht passiert! "Wir haben den Zusammenbruch der UdSSR und die Krise in den 1990er Jahren überlebt - wir werden auch das überleben!" – das höre ich jeden Tag von unterschiedlichen Menschen.

Es fühlt sich an, als wären diese Menschen bereit, die Regierung bis zuletzt zu ertragen und zu rechtfertigen, zu glauben, dass ihnen Geld und Arbeit für ein globales gutes Ziel entzogen werden. Im Laufe des Lebens im Autoritarismus haben sich die Menschen so daran gewöhnt, alles zu ertragen, dass sie völlig vergessen haben, dass es auch ihre Rechte gibt.

Viele Ukrainer fragen, warum Russland noch nicht rebelliert hat. Ich spreche nicht von irgendeiner Revolution. Einfache friedliche Demonstrationen waren jetzt nicht so massiv wie früher. Das Problem ist, dass Menschen der sowjetischen Generation und diejenigen, die unter Putin aufgewachsen sind, daran gewöhnt sind, passiv zu sein. Der Staat weiß es besser. Von uns hängt nichts ab. Das ist schrecklich, aber ich weiß nicht, was passieren soll, damit sie die Wahrheit sehen.

Die Zukunft der Antikriegsbewegung in Russland ist unklar. Wir werden wahrscheinlich in der Minderheit sein. Putin sagte vor kurzem, er werde alle "Verräter" aus dem Land "säubern". Aber das ist in der Geschichte Russlands schon einmal vorgekommen. Und dann halfen diese Dissidenten, die aus Gefängnissen und aus dem Ausland zurückkehrten, dabei, ein neues Land auf den Ruinen der Sowjetunion zu schaffen. Deswegen hoffe ich, dass der Frühling trotzdem kommt.

*Anna heißt eigentlich anders. Zu ihrem Schutz hat die Redaktion ihren Namen geändert.