Frau Possinger, in Ihrem Projekt "Zwischen Kindern, Kirche und Karriere - Welche Kirche brauchen Familien heute?", das seit 2020 läuft und von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg gefördert wird, haben Sie 40 Familien aus Württemberg zu ihren Erfahrungen mit Kirche und ihren Wünschen an Kirchengemeinden befragt. Was sind die ersten Ergebnisse?
Johanna Possinger: Wir haben unterschiedlichste Familien befragt - kirchennahe und distanzierte, traditionelle Familien, Alleinerziehende, Patchwork- und Regenbogenfamilien. Erstaunlich ist, dass alle von ihnen - auch die kirchenverbundenen - sich als vergessene Zielgruppe wahrnehmen. Die Gemeinden bieten vielleicht etwas speziell für Kinder oder Mütter an, aber meist nicht für die gesamte Familie. Viele Väter wünschen sich außerdem, dass auch sie in ihrer Fürsorgetätigkeit gesehen werden, und es in den Gemeinden mehr Vater-Kind-Angebote gibt.
Die sonntäglichen Gottesdienste gehören zu den kirchlichen Kernveranstaltungen: Wie werden sie von Familien wahrgenommen?
Possinger: Die normalen Gottesdienste wurden von den befragten Familien häufig als sehr verbesserungsbedürftig gesehen. Vielfach wurde auch gesagt: Eigentlich haben unsere Alltagsprobleme und Sorgen dort keinen Platz: In der Kirche beten wir gemeinsam das Vaterunser, aber was mich gerade als Vater oder alleinerziehende Mutter beschäftigt, kommt kaum vor. Vor allem Eltern mit kleinen Kindern fühlen sich oft nicht willkommen, wenn sie spüren, dass andere Gottesdienstbesucher sich daran stören, dass ihr Kind laut ist oder in der Kirche herumläuft. Da bleiben viele lieber zuhause und spielen dort mit ihren Kindern, zumal bei einem durchgetakteten Alltag der Sonntag eine wichtige Familienzeit ist.
Aber gibt es nicht oft auch andere Gottesdienstangebote, die familienfreundlicher sind?
Possinger: Es gab auch einzelne Familien, die sich sehr positiv über die Arbeit ihrer Gemeinde geäußert haben, weil diese zum Beispiel einen Familiengottesdienst mit anschließendem gemeinsamem Mittagessen anbietet, was viele Familien als entlastend finden: Die Küche bleibt sauber und stattdessen findet sich Zeit für Begegnung. Auch Gottesdienste, die Corona-bedingt an anderen Orten wie auf einer Wiese oder in der Reithalle stattfanden, kamen bei Familien gut an.
"In den Familiengründungsjahren gibt es für die Kirche viel Potenzial"
Kontakte zur Kirche erhalten viele Familien oft durch kirchliche Trauungen oder Taufen. Könnte eine Kirchengemeinde das Interesse, das mit diesen Feiern verbunden ist, noch mehr nutzen?
Possinger: In den Familiengründungsjahren gibt es für die Kirche viel Potenzial, da sich in dieser Zeit die Paare und Familien intensiv mit Sinnfragen auseinandersetzen. Dieses Interesse könnte noch mehr mit passgenauen Angeboten aufgegriffen werden. Was die Katholische Kirche richtig gut macht, sind Ehevorbereitungskurse, in denen Paare vor einer Hochzeit über die großen Dinge des Lebens reden, gelingende Kommunikation einüben und damit ihre Partnerschaft stärken.
Und was wäre ein passgenaues Angebot für Paare mit Kindern?
Possinger: Sind kleine Kinder da, sehen wir ganz klar aus der Befragung, dass die Zeit für Partnerschaft sehr zu kurz kommt. Eltern sparen sehr viel an der Zeit für sich selbst, um möglichst viel Zeit für die Kinder zu haben. Doch wenn wir die doch sehr hohen Scheidungs- und Trennungsraten sehen, dann gilt: Wenn wir Familien stärken wollen, dann müssen wir auch die Partnerschaft stärken. Wie wäre es, einen Candle-Light-Dinner oder Paarabend zu organisieren, zu dem parallel eine Kinderbetreuung angeboten wird? Das wäre auch für Paare spannend, die sonntags keinen Gottesdienst besuchen.
Liefern Ihre Befragungen Hinweise, was neben einem Candle-Light-Dinner und einem Gottesdienst mit Mittagessen getan werden kann, um auch kirchendistanzierte Familien zu erreichen?
Possinger: Bei vielen befragten Familien weckt Kirche positive Assoziationen was die Betreuung von Kindern anbelangt, sie schreiben der Kirche Kompetenz in diesem Bereich zu. Beispielsweise finden viele kirchendistanzierte Eltern für ihr Kind eine evangelische Schule gut, weil sie die christlichen Werte schätzen, die eng mit den Menschenrechten verbunden sind. Für viele Eltern, die nicht den Sonntagsgottesdienst besuchen, ist es interessant, wenn es in ihrer evangelischen Kita Familiengottesdienste oder eine Sankt-Martin-Feier gibt. Das ist ein Pfund, mit dem Kirche mehr wuchern könnte.
Gab es auch Ergebnisse, die Sie überrascht haben?
Possinger: Wir waren überrascht, dass bei über der Hälfte unserer 40 befragten Familien Geld ein Dauerthema ist und sie schauen müssen, wie sie über die Runde kommen, weil die Eltern alleinerziehend sind, oder beide schlecht verdienen - oder eines der Elternteile bei den Kindern zuhause ist und kein Einkommen hat. Dass es im "reichen Württemberg" so viele Familien mit hohem Armutsrisiko gibt, hätten wir nicht gedacht.