Sie sind NS- und Kirchenexperte und haben sich in der Vergangenheit kritisch zur Geschichte der Potsdamer Garnisonkirche und zum Wiederaufbau geäußert. Sehen Sie inzwischen Entwicklungen, die Sie zu neuen Einschätzungen führen?
Manfred Gailus: Insgesamt ist die umstrittene Situation um den Wiederaufbau der Garnisonkirche weiterhin schwierig und verfahren, die Wiederaufbaupartei und die Kritikbewegung stehen sich weiterhin ziemlich unversöhnlich gegenüber. Das mag man bedauerlich finden, aber es ist so. Neue Entwicklungen könnten darin liegen, dass Vertreter beider Seiten mehr ins Gespräch miteinander kommen. Eventuell könnten neue Impulse auch vonseiten des Potsdamer Oberbürgermeisters Schubert kommen, dem offenbar an einer integrativen Lösung gelegen ist, mit der beide Seiten leben könnten und die ein akzeptables Gesamtkonzept für den umstrittenen Erinnerungsort aus Garnisonkirchturm, Rechenzentrum, Brachfläche hinter dem Turm anbietet. Über ein solches Gesamtkonzept wird in der kommenden Zeit zu verhandeln sein.
Es gibt inzwischen ein Konzept für eine Ausstellung im neuen Garnisonkirchturm, das die Geschichte kritisch in Blick nimmt. Was halten Sie davon?
Gailus: Das Konzept der Stiftung Garnisonkirche für die Ausstellung im Turm, soweit man es auf der Website erkennen kann, weist erhebliche Fortschritte gegenüber früheren Selbstdarstellungen zur Garnisonkirchen-Geschichte auf. Die Darstellung orientiert sich inzwischen näher an den historischen Tatsachen und weicht weniger vor unangenehmen Themen aus. Aber auch sie lässt an vielen Stellen noch zu wünschen übrig. Zum Beispiel wird die Fülle rein nationalsozialistischer Veranstaltungen, Kulthandlungen in der Garnisonkirche seit 1933 nicht dargestellt. Kurz: Es gibt hier Fortschritte, die wohl dem Wirken des wissenschaftlichen Beirats geschuldet sind, aber besonders "schmerzhafte" Themen werden noch immer ausgespart oder unangemessen geschönt.
"Viele trugen dazu bei, die Weimarer Republik zu diskreditieren"
Der neue Turm wird seit vier Jahren gebaut. Was sollte dort aus Ihrer Sicht nach der Fertigstellung geschehen?
Gailus: Die Nutzung des neuen Turms sollte Bestandteil eines oben angesprochenen Gesamtkonzepts für das gesamte Areal sein. Für die angemessene historische Aufarbeitung reicht die dort verfügbare Ausstellungsfläche nicht aus. Angesichts der hohen Kosten, die großenteils aus öffentlicher Hand für den Turm aufgebracht werden mussten, ist neu über seine Nutzung unter Beteiligung der Kritikbewegung und weiterer Initiativen zu verhandeln. Öffentliche Finanzierung verlangt nach viel breiterer öffentlicher Beteiligung an der späteren Programmgestaltung. Nur so erlangt das Vorhaben eine gewisse Legitimation.
Eine Tagung macht die Garnisonkirche als Symbol des Nationalprotestantismus zum Thema. Was erwarten Sie davon?
Gailus: Von der Tagung erwarte ich neue Anstöße zum Thema des preußisch-deutschen Nationalprotestantismus und zugleich Impulse für die zukünftige Ausgestaltung des Gesamtensembles am Erinnerungsort Garnisonkirche Potsdam. Viele Aspekte des Nationalprotestantismus trugen leider dazu bei, die erste deutsche Demokratie der Weimarer Republik zu diskreditieren und ein autoritäres Regime mit Reichskanzler Hitler herbeizuführen. Kirchenführer, Pfarrer und kirchliche Bewegungen wie die Deutschen Christen trugen dazu bei. Die Tagung wird den historischen Ort des Nationalprotestantismus in der deutschen Geschichte neu und kritisch bewerten. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für den heutigen Umgang mit diesem historischen Erbe. Insbesondere der in dieser Tradition tief verankerte Antijudaismus und Antisemitismus sind neu zu bewerten und in einer aktuellen kirchlichen Erinnerungskultur angemessen zu thematisieren.
Sie selbst sprechen dort über den evangelischen Theologen Otto Dibelius sprechen, der 1933 am "Tag von Potsdam" mitwirkte, später Mitglied der NS-kritischen Bekennenden Kirche war, nach dem Zweiten Weltkrieg CDU-Mitglied, Bischof von Berlin-Brandenburg und EKD-Ratsvorsitzender wurde. Wie bewerten Sie seine Rolle in der NS-Zeit und danach?
Gailus: Wir brauchen dringend eine neue Biografie zu Otto Dibelius, einer herausragenden protestantischen Jahrhundertfigur. Das vorherrschende Dibelius-Bild ist veraltet und von der historischen Forschung längst überholt. Seine Rolle in der NS-Zeit bedarf erheblicher Korrekturen und Ergänzungen. Im Jahr 1933 war sein Verhalten schwankend und zögerlich. Politisch begrüßte er das neue Regime unter Hitler. Auch stimmte er den ersten Schritten einer NS-"Judenpolitik" 1933 zu. Bei den ersten Schritten einer Kirchenopposition gegen die Deutschen Christen war er nicht dabei. Nach seiner Frühpensionierung durch die herrschenden Deutschen Christen nahm er eine halbjährliche Auszeit als Kurprediger in San Remo in Italien. Als er im Juni 1934 zurückkehrte, waren die entscheidenden Schritte hin zur Bekennenden Kirche gemacht - ohne ihn. Fortan half er bei der Bekennenden Kirche mit, gehörte aber nicht zu den Frontmännern um Niemöller und Bonhoeffer, den "Dahlemiten". Er war und blieb eher ein "Mann der Mitte", auf Ausgleich und Kompromisse bedacht. Widerstand gegen den NS-Staat lehnte er aufgrund der Bibelpassage Römer 13 und Luthers Zwei-Reiche-Lehre ab. Seine Rolle nach 1945 wäre ein neues Kapitel: Hier sei nur gesagt, dass er die Entnazifizierung der Kirche sehr zögerlich betrieb und bei der Rehabilitierung von schwer belasteten NS-Pfarrern sehr großzügig war.
Setzt sich die evangelische Kirche aus Ihrer Sicht angemessen mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus auseinander? Wo sehen Sie Defizite?
Gailus: Die evangelische Kirche heute, hier vor allem die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, setzt sich seit circa zwei bis drei Jahrzehnten mit ihrer NS-Vergangenheit auseinander. Davor fast überhaupt nicht. Aber in vielen Fällen muss die Kirche leider immer wieder geschoben, gezogen oder getrieben werden, um sich diesen "unangenehmen Dingen" zu stellen. Defizite gibt es leider noch immer zahlreiche. Nicht nur, dass schmerzhafte Themen ungern angefasst werden. Sie versäumt auch, ihre Lichtblicke aus der NS-Zeit angemessen zu würdigen. Elisabeth Schmitz zum Beispiel, die 1935 eine mutige Denkschrift gegen die Judenverfolgung schrieb. Oder Friedrich Weißler, ein nichtarischer Jurist, der 1937 in Sachsenhausen ermordet wurde. Viele Kirchenleute kennen nicht einmal ihre Namen. Kurz: Die kirchliche Aufarbeitung ist nicht beendet, auch weiterhin bleibt hier viel zu tun.