"Herr General, können Sie es unter diesen Umständen vor ihrem ewigen Richter verantworten, die Verteidigung der Stadt fortzusetzen?" Mit diesen Worten setzt am 4. Mai 1945 auf der Breslauer Dominsel der evangelische Pfarrer Ernst Hornig den befehlshabenden "Festungskommandanten" und General der Wehrmacht, Hermann Niehoff, unter Druck – so Hornigs Erinnerungen und die des anwesenden Stadtdekans Joachim Konrad.
Die Ausgangslage ist Folgende: Adolf Hitler hat bereits am 30. April Zyankali geschluckt, die Stadt Berlin am 2. Mai kapituliert, doch die Verteidigung der zerbombten niederschlesischen Stadt, seit Mitte Februar von der Roten Armee eingekesselt, geht immer noch weiter. Darüber wacht Gauleiter Karl Hanke, der mit Niehoff eine Doppelführung der Stadt bildet.
Wie weitere deutsche Städte im Osten ließ Hitler Breslau bereits im Sommer 1944 in einem Geheimbefehl zu "Festungen" erklären – sie sollen die Rote Armee auf ihrem Weg nach Berlin binden. Und "Festung" schloss auch eine geistige Haltung seiner Bewohner mit ein, die sie verpflichtet, ihre Stadt bis zum Letzten zu verteidigen.
Eine Festungszeitung in Breslau verbreitet Durchhalteparolen und verspricht einen Einsatz durch deutsche Truppen. Doch vor allem wirkt "Kampfkommandant" Hanke durch Terror. Er lässt über tausend Bewohner erschießen, schon ein geäußerter Zweifel am Sieg gilt als "Defätismus" und somit als Todesurteil für den Betroffenen.
Und nicht nur die sowjetische Bombardierung zerstört die Stadt: Als der Gandauer Flughafen am nordwestlichen Rand der Stadt in die Hände der Roten Armee zu fallen droht, wird in der Mitte Breslaus durch Sprengung eines ganzen Viertels Platz für ein Rollfeld geschaffen. Auch die riesige neogotische Lutherkirche wird darum dem Erdboden gleich gemacht.
Kinder und Alte müssen gemeinsam mit ausländischen Zwangsarbeitern Bauarbeiten auf der freien Fläche leisten und sind so dem sowjetischen Beschuss ausgesetzt - Tausende sterben dabei. Im Führerbunker in Berlin kommt diese harte Linie an: Einen Tag vor seinem Tod ernennt Hitler Hanke zum Reichsleiter der SS, da Heinrich Himmler in Ungnade gefallen war.
Angesichts dieser Drohkulisse wagen Stadtdekan Joachim Konrad und Pfarrer Ernst Hornig, die seit der Einkesselung zusammen eine Art "Notkirchenregiment" bilden, erst nach dem Suizid Hitlers den Entschluss, die militärische Führung zur Kapitulation zu bewegen. Beide sind Angehörige der "Bekennenden Kirche" und haben bereits vor dem Krieg Repressalien der Gestapo in Form von Verhören, Predigtverboten und Haft erlebt.
Über die informale ökumenische Bewegung "Una Sancta" kennen sie den katholischen Weihbischof Joseph Ferche und Kanonikus Joseph Kramer, den sie überzeugen, sie zur Stableitung zu begleiten. Den 50-jährigen Hornig wählen sie zum Wortführer. "Was jetzt im Interesse der Verantwortung für die Bevölkerung zu geschehen hatte, war damit unabdingbar der Kirche aufgegeben", so die Erinnerung Konrads. Angst hatten jedoch alle vier. Der 41-jährige Stadtdekan schreibt darum einen Abschiedsbrief an seine Familie - für den schlimmsten Fall.
Der Empfang in der Universitätsbibliothek, die als Stabsbunker dient, ist jedoch freundlich. Hornig trägt die Leiden der Bevölkerung vor und schließt mit dem zuvor abgesprochenen Satz über die Verantwortung vor dem ewigen Richter ab.
Es folgt eine quälende Minute des Schweigens. Der General, in Beisammensein von zwei Offizieren, gebraucht mit "Suchet der Stadt Bestes" sogar einen Bibelspruch, doch das Gespräch wandelt sich schnell vom Theologischen ins Militärtaktische. Erwartungsgemäß spricht Niehoff von einem Einsatz durch die Armee von Oberheeresleiter Ferdinand Schörner und damit verbundene Ausbruchspläne.
Hornig, der als Artillerieleutnant im Ersten Weltkrieg kämpfte, versucht die Pläne des Generals zu widerlegen. "Bei einer Kapitulation macht die SS nicht mit", erklärt dieser jedoch abschließend, und man geht mit höflichen Worten auseinander.
Am Nachmittag lässt Niehoff Pastor Hornig und Weihbischoff Ferche erneut holen. Die Geistlichen befürchten das Schlimmste – kommt nun die Verurteilung für "Sabotage des Verteidigungswillens"?
Hornig berichtet noch einmal von den Leiden der Bevölkerung und fordert die Übergabe, diesmal vor den etwa 30 versammelten Kommandeuren - auch der SS - jedoch in Abwesenheit Hankes. Anscheinend will Niehoff die Unterstützung des gesamten Stabs für die Kapitulation erhalten.
Der Pastor verbarrikadiert sich darauf auf Anraten seiner Amtsbrüder im tiefen Keller der Krypta der evangelischen Magdalenen-Kirche - in der "Festungszeitung" wird am anderen Tag scharf vor "defätistischen Elementen" gewarnt, ohne den Namen des Geistlichen zu nennen.
Ein anderer Weg
Denn Hanke, der von den Gesprächen erfahren hat, sucht den General noch am Abend des 4. Mai auf. In den Erinnerungen Niehoffs rastet er zunächst aus, bedroht ihn mit Verhaftung und resigniert schließlich. "Was soll ich tun?", wird der General gefragt, dieser rät zum Suizid oder zur Flucht als einfacher Soldat verkleidet.
Hanke wählt einen anderen Weg - in der Nacht zum 6. Mai verlässt der letzte SS-Reichsführer als einziger Nutznießer der blutig erbauten "Rollbahn" Breslau mit einem Leichtflugzeug, vermutlich Richtung Riesengebirge, wo deutsche Truppen noch Gebiete halten.
Rache an der Bevölkerung
Am 6. Mai schweigen die Waffen. Zwei Tage vor der deutschen Gesamt-Kapitulation vollzieht Niehoff die Übergabe Breslaus an das sowjetische Militär. Die versprochene gute Behandlung der Bevölkerung wird nicht eingehalten. Die sowjetischen Truppen, die bei der Belagerung tausende Soldaten verloren haben, rächen sich an den Bewohnern durch Mord und Vergewaltigung, zerstören weitere Gebäude und sie suchen nach "Werwolf-Einheiten" – das Dritte Reich hat angekündigt, in den eroberten Gebieten einen Partisanenkampf zu beginnen.
Ein Hinweis darauf, dass es wohl noch schlimmer gekommen wäre, hätte Niehoff weiter gewartet - schliesslich soll sich Josef Stalin vor einem deutschen "Widerstandsmythos" kurz vor Kriegsende gefürchtet haben. Und die sowjetischen Bomberstaffeln standen nach der Kapitulation der deutschen Hauptstadt am 2. Mai wieder zur Verfügung.
Verharmlosung des NS-Terrors
Nachdem Krieg beginnt die Auseinandersetzung um das lange Durchhalten. Hermann Niehoff schreibt nach Entlassung aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1956 für mehrere Ausgaben der "Welt am Sonntag" einen Bericht, der seine Rolle beschönigend darstellt und die Rolle Hornigs unterschlägt, was ihm Joachim Konrad in einem öffentlichen Brief vorwirft.
Konrad, der zu diesem Zeitpunkt als Professor für praktische Theologie in Bonn lehrt, stört auch, dass der ehemalige Offizier den NS-Terror verharmlose und er bemängelt dessen Zaudern: "Mussten die grauenhaften Zerstörungen und Endkämpfe bis zur letzten Patrone durchlitten werden, musste - trotz Sippenhaft - erst der "Führer" tot sein, ehe Niehoff den Zeitpunkt der Übergabe für gekommen sah?"
Hornig wirkte nach dem Krieg als Bischof der Schlesischen Kirche in Görlitz und als eine Stimme gegen Wiederbewaffnung und Schießbefehl der DDR. Beide Theologen - sowohl Hornig als auch Konrad - sind mittlerweile vergessen. Vermutlich, da heute Breslau und der evangelischen Widerstand gegen das "Dritte Reich" vor allem mit Dietrich Bonhoeffer verbunden wird, der dort seine ersten Lebensjahre verbrachte und auch in der heute polnischen Stadt mit einem Denkmal geehrt wird.
Zudem traten Konrad wie Hornig bis zu ihrem Lebensende für die Erinnerung an ihre schlesische Heimat und die schlesischen Protestanten ein, was in den Siebziger Jahren in Deutschland zunehmend "gestrig" wirkte. Vor allem Konrad, der als Pastor mit Halskrause auftrat, galt als Konservativer, der eine entpolitisierte Predigt forderte und die 68er-Studentenbewegung kritisierte, die ihn als "rechtslastigen" Universitätslehrer ablehnte.