Amal Hamburg! und Amal, Berlin! sind Projekte des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP), das auch evangelisch.de herausgibt. Amal informiert Montag bis Freitag auf Arabisch und Dari/Farsi über Ereignisse in den beiden größten Städten Deutschlands. Das Wichtigste vom Tage wird ergänzt durch Reportagen, Interviews und Kommentare. Journalisten und Journalistinnen aus Syrien, Afghanistan, Ägypten und Iran betreiben diese mobile Nachrichtenplattform als eine lokale Tageszeitung online und auch für mobile Endgeräte.
Das erste Bild, das ich heute Morgen von meiner Familie in Afghanistan geschickt bekam, zeigte meine Geschwister, die unser Familienalbum zerrissen. "Die Taliban sollen diese Fotos nicht in die Hände bekommen!", so der Kommentar, den mein Vater dazu schrieb. Unter den Bildern, die zerrissen wurden, erkannte ich eines von mir und meiner Großmutter im Park. Wir waren damals im Iran im Exil. Das war vor 2001, als in meiner Heimat Afghanistan schon einmal die Taliban herrschten.
Es war der letzte Ausflug meiner Großmutter, bevor sie krank wurde. Sie litt den Rest ihres Lebens unter Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Wir Kinder wuchsen auf mit ihren Geschichten. Sie erzählte von ihrer Kindheit und sie sehnte sich unendlich danach, noch einmal in ihr Elternhaus in einem Dorf nahe Mazar-e-Sharif zurückzukehren. Hätte sie nur noch ein wenig durchgehalten. Einige Tage nach ihrem Tod wurden 2002 die Taliban gestürzt.
Stadt voller Ruinen
Meine älteste Erinnerung an die Taliban sind Bilder, die ich im Fernsehen gesehen habe. Es war ein Bericht über eine Frau im blauen Schleier, die in einem Fußballstadion erschossen wurde. Nach dem Sturz der Taliban kehrten wir nach Afghanistan zurück. Zunächst kamen wir in Kabul unter - da, wo auch jetzt, in diesen Tagen mein Vater und meine Geschwister Zuflucht gefunden haben. Ich erinnere mich an unsere Ankunft in der Stadt voller Kriegsruinen. Ich denke oft an die völlig zerstörten Häuser und an die Menschen, die in ihnen gelebt haben. Was ist aus ihnen geworden?
Unter den Bildern, die nun zerrissen wurden, ist eines von meinem Vater, der mich im Arm hält. Ich trage ein hellgrünes Hemd und Jeans. Ich denke oft an unsere Spaziergänge durch die Straßen unserer Stadt. Er nahm mich mit zur Arbeit auf den Baustellen, wo er als Bauunternehmer tätig war. Ich saß im Schatten und sah ihm zu. Oft war es sehr heiß. Er lächelte mich an und das gab mir Mut. "Eines Tages, solange ich noch Kraft in meinen Händen habe, werde ich auch uns ein schönes Haus bauen", sagte er.
Ich vermisse die Stimme meines Vaters
Das Bild der Baustelle zu unserem Haus ist nun auch zerrissen worden. Es zeigte meinen Vater und mich. Wir zwei haben ganz allein das Haus gebaut. Ich war damals 14 Jahre alt und das Haus wurde für viele Jahre unser Zuhause. Nun steht es verlassen. Die Taliban haben Mazar-e-Sharif bereits vergangene Woche erobert.
Niemand ist mehr dort, um es zu verteidigen. Ich vermisse unseren kleinen Garten und den Ofen, in dem meine Mutter Brot gebacken hat, das Gegacker der Hühner, die meine Schwester jagte. Ich vermisse es auch, morgens aufzuwachen und der Stimme meines Vaters zu lauschen. Er saß oft im Hof und rezitierte aus dem Quran. Ich verstehe jetzt besser, was meine Großmutter gefühlt hat. In mir wächst eine Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach dem Ort, der nicht mehr erreichbar ist.
Immer gab es Hoffnung auf Rückkehr
Es ist die Sehnsucht danach, wieder ein Kind zu sein, gehalten und beschützt zu werden. In dieser Zeit, die alles zerstört. Es ist die Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden. Mein Herz möchte in Ruhe schlafen können und möchte am Morgen von den friedlichen Klängen der Quran-Rezitation geweckt werden. Neulich träumte ich davon, dass ich zurück bin und meinen Vater im Hof des Hauses traf.
Ich sagte ihm: Ich bin selbst Vater und verstehe jetzt, warum es dir das Herz gebrochen hat, als ich dich und die Heimat verlassen musste. Immer gab es die Hoffnung, dass ich zurückkehren könnte, dass ich meinen Kindern diesen Ort zeigen könnte. Auch sie sollen das Gefühl haben, zu einer großen Familie zu gehören, mit dem Großvater spazieren gehen, mit den Onkeln spielen und alle sollen zusammen sein. Seit letzter Woche gibt es diese Hoffnung nicht mehr.
Niemand sollte sich fürchten müssen
Die Gedanken wandern zu meinem Vater. Für ihn ist diese Zeit besonders hart. Er sollte jetzt im Hof seines von eigener Hand für seine Familie gebauten Hauses sitzen und Besuch von seinen Enkeln empfangen. Für ihn sollte das Geräusch, dass jemand das Haus betritt, ein freundliches Geräusch sein. Es sollte ankündigen, dass seine Kinder oder Enkel ihn besuchen kommen.
Niemand soll sich fürchten müssen, dass ein Feind in das Familienleben eindringt. Ein Feind, der kommt, um die Töchter zu holen. Ich verstehe, wie schwer es für Dich ist, Vater, dieses Haus zu verlassen, um deine Kinder in Sicherheit zu bringen. Dass Du wieder Zuflucht suchen musst an einem Ort, wo deine Hände keine Kraft mehr haben und Bilder zerreißen, statt Häuser zu bauen.
Hier sitze ich nun, weit entfernt von ihm und meinen Geschwistern. Alles, was ich habe, sind die Bilder, die sie fotografieren und mir schicken, bevor sie zerrissen werden. Was mache ich damit? Vielleicht drucke ich die Handybilder aus und lege ein neues Familienalbum an. Ein Album, in dem meine Kinder die Geschichte meiner Familie anschauen können.
Eine Geschichte, die von einem Zuhause handelt, das immer wieder verloren gegangen ist. Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg der Taliban sind in unsere Geschichte eingewoben. In diesem neuen Album werden die Bilder von meiner Großmutter, meinem Vater und mir sein. Natürlich werde ich auch das Bild aufkleben, das meine Geschwister zeigt, die unser altes Album zerreißen.
Der Text von Jalal Hussaini von "Amal, Hamburg!" Amalerschien zuerst beim Hamburger Abendblatt. Wir danken für die Kooperation.