Der kleine Boxhandschuh am Rückspiegel baumelt hin und her, als Arwed Marquardt mit seinem Auto auf den Parkplatz vor einer Industriehalle direkt am Mittellandkanal einbiegt. Hier ist das Domizil von "Crossfit Minden", und wer Sport vor allem vom heimischen Sofa aus kennt, taucht hier in eine andere Welt ein. Aus den Boxen brüllt "Highway to hell" von AC/DC, dazu stemmen Männer und Frauen schwere Gewichte, machen Klimmzüge an der Reckstange und laufen dann fast am Ende ihrer Kräfte nach draußen, um dort noch ein paar Runden zu drehen.
Es sind keine tumben Muskelpakete, sondern Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die hier nach Feierabend an ihre Grenzen und darüber hinaus gehen wollen. Derweil macht sich die nächste Gruppe für "Boxen mit Arwed" warm. Arwed Marquardt hat 25 Jahre Boxerfahrung und eine Trainer-Lizenz, aber er ist auch Sonderpädagoge und seit einem knappen Jahr Dozent am Religionspädagogischen Institut im niedersächsischen Loccum bei Nienburg für die Bereiche Förderschulen und Inklusion. Aber? Für ihn gibt es da kein Aber. "Ich habe zwar noch keine Antwort parat, wie man Boxsport mit Theologie in Verbindung bringt", sagt der 54-Jährige. Doch ein Widerspruch ist es für ihn nicht.
Arwed Marquardt selbst ist die Verbindung. Sein Weg vom Jungen, der in seinem Hamburger "Problemviertel" fast zwangsläufig in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt wurde, bis zum Mann, der mit Schülerinnen und Schülern über das Leichtkontakt-Boxen zum sozialen Lernen kommt, war kurvig - doch nicht unschlüssig.
Marquardt hat Methode nach Deutschland geholt
Beim Leichtkontakt-Boxen trainieren die Jugendlichen Motorik, Ausdauer und Impulskontrolle. Sie schlagen nicht hart zu, sondern touchieren ihr Gegenüber nur. Marquardt hat diese Methode, die in Frankreich und der Schweiz bereits pädagogisch erprobt ist, nach Deutschland geholt und wissenschaftlich untermauert. Der Mann, der sich einst die Hochhäuser der Plattenbau-Großsiedlung Osdorfer Born auf den rechten Unterarm tätowieren ließ, hat sich in diesem Jahr in Erziehungswissenschaft habilitiert. Thema seiner Arbeit: "Boxsport im schulischen Feld. Eine Ethnographie sozio-emotionaler Praktiken".
Normales Boxen ist in der Schule gar nicht erlaubt. So wie sein Vater dem 14-jährigen Arwed das Boxen verboten hatte, damit er nicht in ein zwielichtiges Milieu abrutscht. Also begann er mit Taekwondo, das einen besseren Ruf hatte. Erst mit 22, als die Eltern nichts mehr zu sagen hatten, wechselte er dann doch zum Boxen. Mit dem Modell des Leichtkontakt-Boxens schaffte es Marquardt schließlich, das Kultusministerium in Hannover, den Landessportbund und den niedersächsischen Box-Sport-Verband für eine Kooperation zu gewinnen.
"Es geht darum, eine andere Haltung zu entwickeln und den Gegner nicht zu verletzen", sagt der Pädagoge. "Die Kunst besteht darin, in einem emotionalen Moment eben nicht so hart zu schlagen." Bewegende Momente hatte der Lehrer, wenn er Kinder mit und ohne körperliche Beeinträchtigung gemeinsam trainierte. "Ein Junge im Rollstuhl ist natürlich in der Lage zu boxen. In England ist das durchaus verbreitet." Oder ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung, für das es ein Gewinn gewesen sei, "mit dem härtesten Jungen der Schule zu trainieren".
Als "Zaubermittel für Gewaltprävention" in der Schule tauge das Leichtkontakt-Boxen allerdings eher weniger, meint Arwed Marquardt. Gerade die Draufgänger-Typen hätten ein völlig falsches Selbstbild. "Die Jungs mit ihrem überhöhten Ego merken schnell, dass sie es koordinativ nicht schaffen oder dass ihnen nach einer Minute die Luft ausgeht. Sie hören auf, wenn man ihnen sofort ihre Grenzen aufzeigt." Für Schüchterne hingegen sei Boxen eine gute Möglichkeit, mehr Selbstbewusstsein zu bekommen.
Im "Crossfit Minden" ist der Kraftsport keine reine Männersache, der Frauenanteil ist auffallend hoch. Neben Athleten, die das Zeug zum Profiboxer haben, ist da auch die 14-jährige Emily Rösener, die zierlich und zurückhaltend wirkt. "Ich schlage gerne zu", sagt sie mit entwaffnender Offenheit und muss selbst darüber lachen. Ernster fügt sie an: "Ich brauche das zum Stressabbauen." Zunächst hatte sie Handball gespielt, dann probierte sie mit ihren Eltern den Kraftraum und schließlich Arwed Marquardts Training aus. Zufall, dass die Gymnasiastin der Freien Evangelischen Schule Minden bei einem Religionspädagogen das Boxen lernt.
"Ich bin ohne religiöse Sozialisation aufgewachsen, mein Vater war erklärter Atheist", sagt Marquardt. Er selbst habe sich in Hamburg nach Spiritualität gesehnt und eine Zeitlang in einem Buddhistischen Zentrum gelebt, bevor eine Pastorin ihn für den christlichen Glauben interessierte, erzählt er. "Mich stört manchmal, dass in der Kirche alles so lieb ist." Und Boxen eher verpönt. Dabei sei beispielsweise Box-Legende George Foreman seit vielen Jahren ein Prediger und auch Muhammad Ali ein tiefgläubiger Muslim gewesen. "Boxen hat viel mit Begegnung zu tun, auch harter Begegnung - und mit sich selbst. Aber es geht auch immer um Respekt und Wertschätzung des Partners."