"Man sieht nicht alle gleich gern, aber es ist trotzdem eine ganz andere Atmosphäre mit der kompletten Gruppe.“ Unterm Strich ist Henry (13) froh, dass seine Klasse 8b wieder vollständig zur Schule gehen darf. Seit Montag gilt in Niedersachsen und anderen Bundesländern wie Hamburg oder dem Saarland das „Szenario A“, auch an der Evangelischen IGS in Wunstorf bei Hannover. Die Rückkehr zum gemeinsamen Präsenzunterricht ist möglich, wenn der sogenannte Sieben-Tage-Inzidenzwert von 50 unterschritten wird. In Wunstorf liegt er bei unter 10. Ein halbes Jahr hat Henry seine Mitschüler nicht gesehen, erzählt er: "Ich bin jetzt größer als einer, der vorher größer war als ich.“
Im Konferenzraum der IGS haben sich elf Schülerinnen und Schüler versammelt - mit Maske, wie es auch weiterhin Pflicht sein wird. Sie berichten, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen ist. Wie viele haben im Schlafanzug den Unterricht daheim bestritten? Etwa die Hälfte meldet sich. Wie viele haben sich während der Videokonferenzen in Mathe oder Deutsch noch mit anderen Dingen beschäftigt? Alle. "Ich habe nebenbei die letzte Serie nachgeschaut“, erzählt eine 13-Jährige. "Oder ich habe das Tablet mit in die Küche genommen und dabei gekocht.“ Ein Zwölftklässler erzählt, dass er meistens noch ein zweite Videokonferenz laufen hatte, in der er mit Freunden gequatscht hat. "Nur blöd, wenn man dann vergisst, den Ton abzuschalten.“
Sorge um Corona-Bildungslücken
Alle sind sich einig, dass der Digital-Unterricht kein adäquater Ersatz für den Schulbesuch ist. Anfangs sei die technische Umsetzung noch chaotisch gewesen. Schülersprecherin Jana (16) stand zudem wegen ihrer Abschlussprüfungen unter Druck: "Es ist schon Mist, wenn dann die Internet-Verbindung schlecht ist oder man nicht alles versteht und sich vieles selbst beibringen muss.“ Eine andere Schülerin kritisiert, dass manche Lehrer es sich sehr einfach gemacht hätten. "Die haben allen die gleichen Aufgaben gegeben und waren dann nicht mehr für Nachfragen zu erreichen. Und dann beschweren sie sich, wenn man nicht rechtzeitig abgibt.“ Eine 13-Jährige gibt zu, dass sie "im Online-Unterricht weniger Respekt vor dem Lehrer“ hat. Eine Ermahnung per E-Mail habe sie nicht so ernst genommen: "Mehr konnte er ja nicht machen“.
Wieder andere sorgen sich, dass sie weniger gelernt haben als vorherige Jahrgänge. "Was, wenn später ein Arbeitgeber sagt: Der ist aus dem Corona-Jahrgang, der weiß nicht so viel?“, fragt der 17-jährige Tim. Vieles dreht sich bei den Jungen und Mädchen um den Schulstoff und wie man ihn unter Corona-Bedingungen bewältigen oder nachholen kann. Erst auf Nachfrage erzählen sie, was darüber hinaus auf der Strecke geblieben ist: die Klassenfahrt nach Prag, der Abschlussball, private Partys. Viele konnten ihren Sport nicht ausüben oder nur im Einzeltraining per Skype.
Auch für Schulsozialarbeiterin Julia Kiel hat sich die Arbeit komplett verändert: "Vor Corona haben wir viel Gruppenarbeit, Unterrichtsbegleitung und Freizeitpädagogik gemacht.“ In den vergangenen Monaten habe sie dagegen vor allem Einzelgespräche geführt, über Motivationsprobleme im Homeschooling, Stress in der Familie. "Diese Zeit wird an einigen seelisch nicht spurlos vorübergehen“, sagt Kiel. Die meisten wollten zurück in die Schule. Für Kinder mit Schulangst wiederum sei die Rückkehr nach so langer Unterbrechung noch schwieriger.
"Vermeintliche Normalität"
Die Erziehungswissenschaftlerin Severine Thomas mag daher in die allgemeine Euphorie über Schulöffnungen ebenfalls nicht einstimmen. "Junge Menschen wurden über Wochen und Monate angehalten, Abstand zu halten und darauf hingewiesen, welche Gefahren von einer Ansteckung ausgehen“, sagt sie. "Nun werden sie in eine vermeintliche Normalität versetzt, ohne dass sie Gelegenheit hätten, das Tempo der Rückkehr in die gewohnten Schulstrukturen mitzugestalten.“
Nach wie vor seien die meisten Kinder und Jugendlichen nicht geimpft, dennoch müssten sie zurück in voll besetzte Klassen und dort den Unterricht bestreiten, gibt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim zu bedenken. Zudem bleibe eine enorme Anspannung, weil Lernstoff nachgeholt werden müsse und Klassenarbeiten anstünden. "Wie es jungen Menschen damit geht, bleibt weitgehend nachrangig.“
Elke Helma Rothämel, Direktorin der Evangelischen IGS Wunstorf, sieht diese Nöte durchaus: "In der Wirtschaft gibt es den Begriff New normal. Wir dürfen aber eben nicht so tun, als sei alles wieder normal, sondern werden vieles sehr sanft aufarbeiten müssen.“