Es ist ein düsteres Kapitel in der Geschichte Schleswig-Holsteins: Mehr als 3.000 Erwachsene, Jugendliche und Kinder wurden zwischen 1949 und 1975 Opfer von Medikamentenversuchen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie. Das geht aus einer Dokumentation der Universität Lübeck hervor. Sie beweist erstmals, dass auch in kirchlichen Einrichtungen im Land Medikamentenversuche üblich waren. Eine von sieben untersuchten Einrichtungen sind die diakonischen Ricklinger Anstalten bei Bad Segeberg.
Generell befanden sich die Psychiatrie und Behinderteneinrichtungen in den Nachkriegsjahren in einem desolaten Zustand. In Rickling war die Situation offenbar besonders dramatisch. In einem Schreiben von 1963 begründete der Stationsarzt dem Leiter Pastor Schmidt die erhöhten Medikamentenkosten mit Personalengpässen. Die Einführung eines „therapiefreien Tages“ zur Kostensenkung sei fehlgeschlagen, da es auf „manchen Abteilungen“ zu einer untragbaren „Unruhe und Gereiztheit“ gekommen sei. Für den hohen Medikamenteneinsatz wurde auch die mangelhafte Qualifikation des Personals verantwortlich gemacht. Pharmakonzerne wie Bayer und Merck spielten den Ärzten damals in die Hände. Vor der Markteinführung gaben sie Medikamente kostenfrei an die Anstalten ab.
Die Sedierung, also Ruhigstellung der Patienten, gehörte in Rickling zur Standardtherapie. Dennoch stieg die Zahl der Bewohner bis 1969 auf 1.235. Der Großteil der Patienten stammte aus Hamburg. Für die Patienten waren sechs Planstellen für Ärzte eingerichtet.
Gravierende Nebenwirkungen
Auszüge aus Patienentakten belegen, dass gravierenden Nebenwirkungen der Medikamente von den Verantwortlichen billigend in Kauf genommen wurden. In einem Bericht vom 10. April 1958 geht es um eine Patientin, die mit dem Psychopharmakon Decentan behandelt wurde. Das habe einen zunächst „ganz verblüffenden Erfolg“ gehabt. Um einen „sedierenden Effekt“ zu erreichen, wurde der „Krankenhausinsassin“ eine entsprechend hohe Dosis verabreicht. Daraufhin bekam sie „ein ganz erhebliches Parkinsonbild“ mit einem Krampf der Kaumuskulatur des Unterkiefers und sehr schmerzhaften Kontraktionen der Muskulatur der Zunge und des Halses. „Sie lag flehend und jammernd im Bett, meinte, daß diese Bewirkung beabsichtigt war und versprach, daß sie sich bessern wolle und ruhig bleiben wolle“, heißt es in der Akte.
Wehrten sich die Patienten, wurden ihnen die Medikamente mit einem Trichter eingeflößt oder in das Gesäß gespritzt. Wurden sie unruhig oder gar übergriffig, fixierte sie das Personal an Händen und Füßen. In einer Akte über eine Patientin ist vermerkt: „Sie schluckte mittags die Dragees nicht runter, als sie den Mund aufmachen sollte, schlug sie der Pflegerin den Medikamentenkasten aus der Hand, sie bekam für 2 Stunden die Handmuffe um.“
„Menschenunwürdige“ Verhältnisse
Die Hamburger Gesundheitsbehörden kamen nach einer Besichtigung der Ricklinger Anstalten 1975 und 1976 zu dem Schluss, dass in Rickling mehr als eine Abteilung „menschenunwürdig“ sei. „Die Entlassungsquote ist gering und von Besserung der Patienten kann kaum die Rede sein.“
Die Wissenschaftler der Uni-Studie konnten in keiner Einrichtung Belege für ethische oder rechtliche Bedenken der Verantwortlichen finden. Bis zur Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes von 1976 war die Prüfung von Medikamenten zwar keinen genaueren Rechtsregelungen unterworfen. „Bereits im Untersuchungszeitraum war jedoch die Einwilligung in medizinische Eingriffe durch die Betroffenen oder ihre gesetzlichen Vertreter ethisch und rechtlich erforderlich“, heißt es.
Diakonie-Landespastor beschämt
Der Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein als Träger der Ricklinger Anstalten und die Hamburger Landesregierung hätten die Verhältnisse in den psychiatrischen Heimen toleriert. Inwiefern Landesverein und Einrichtungsleitung über den Umfang von Medikamentenprüfungen informiert waren, lasse sich nicht nachvollziehen. Dass sie über Anwendungsbeobachtungen und Kontakte zu pharmazeutischen Firmen informiert waren, ist der Studie zufolge nachweisbar.
Diakonie-Landespastor Heiko Naß zeigt sich beschämt. Die Diakonie wolle sich bei den Betroffenen entschuldigen und sie dabei unterstützen, Anerkennungsleistungen zu erhalten. Betroffene können bei der bundesweiten Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ noch bis zum 30. Juni einen Antrag auf eine einmalige Entschädigung über 9.000 Euro stellen. Darüber hinaus will das Land Schleswig-Holstein 6,2 Millionen Euro für Betroffenen in Schleswig-Holstein bereitstellen, die sich nach dieser Frist melden.