Kinder im Kinderheim Arnsburg
Foto: Ev. Stiftung Arnsburg
Von 1877 bis 1957 befand sich im Gartenhaus des ehemaligen Kloster Arnsburg ein evangelisches Mädchenerziehungsheim. Die Kinder wurden dort unter anderem von den Diakonissen des Elisabethenstifts in Darmstadt betreut.
"Manches Heim knüpfte nahtlos an die NS-Zeit an"
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat Schicksale von Heimkindern in der Nachkriegszeit aufgearbeitet. Petra Knötzele erzählt, wie rechtlos Kinder waren, wie sie ruhig gestellt wurden und wie Erwachsene mit Heimkinder-Biografie nach ihrer Kindheit forschen können.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat aufgearbeitet, wie die Heime in ihrer Trägerschaft mit den ihnen anvertrauten Kindern in der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre umgegangen sind. Wie kam es dazu?

Petra Knötzele: 2011 wurde der Heimkinder-Fonds eingerichtet. Träger, die nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970er Jahre Kinderheime hatten, haben eingezahlt. EKD und Diakonie haben ehemalige Heimkinder im Jahr 2011 öffentlich um Entschuldigung gebeten. Aufgrund dieser Öffentlichkeit haben sich Einzelne, die in ihrer Kindheit in Heimen gewesen sind, bei uns gemeldet. Manche wollten einfach nur ein Gespräch darüber, was ihnen geschehen ist. Bei anderen ging es auch um die Frage einer institutionellen Anerkennung.

Aus welchen Gründen kamen Kinder in den 1950er und 1960er Jahren in Heime?

Knötzele: Zum einen weil es aufgrund des Krieges eine große Gruppe an Waisen gegeben hat. Die Städte waren zerbombt und Kinder waren von ihren Familien getrennt. Viele mussten zumindest zeitweise untergebracht werden. Es gab auch Lehrlingsheime, in denen junge Menschen bis zum 24. Lebensjahr blieben, weil Volljährigkeit später einsetzte. Dann gab es andere Moralvorstellungen. Eine Frau alleine hat ihr Kind häufig nicht behalten, sondern es wurde unter Fürsorge gestellt und dann regelmäßig auch in einem Heim untergebracht, zumindest eine gewisse Zeit. Damit gibt es eine große Zahl von Gründen für Heimerziehung für Kinder. Das führt auch zu der Vielzahl an Einrichtungen.

Wie sind die Kinder damals in den Heimen behandelt worden?

Knötzele: Die Heimaufenthalte waren sehr unterschiedlich, das haben wir in vielen Gesprächen erfahren. Die einen sagten, es sei für sie das größte Glück gewesen, dass sie aus der kaputten Familie, in der sie hätten groß werden sollen, rausgekommen sind. Im Heim hatten sie geregeltes Essen und die Möglichkeit zur Schule zu gehen. Und wir hatten die umgekehrte Situation, dass Menschen im Heim großes Unrecht erlitten haben. Kinder wurden gedemütigt, geschlagen und sie hatten keine Bildungschancen. Heute wissen wir auch, dass einige Kinder mit Medikamenten, etwa schweren Psychopharmaka, ruhig gestellt wurden. Nach dem Krieg lebten 700.000 Kinder und Jugendliche in Heimen. Manches Heim knüpfte pädagogisch gesehen nahtlos an die NS-Zeit an, andere bemühten sich aber auch bewusst um Abgrenzung.

Was wünschen sich die Erwachsenen, die damals in solchen Heimen waren, heute?

Knötzele: Einerseits haben wir dabei geholfen einen Antrag auf Entschädigung an den Fonds der Bundesregierung für ehemalige Heimkinder zu stellen. Andererseits gab es bei einigen den Wunsch, biografische Daten wiederzufinden. Einzelne waren von Geburt bis zum 24. Lebensjahr in Heimen untergebracht. Manche wussten nicht, wo sie überall gewesen sind. Deswegen hat die Kirchenleitung entschieden, ein sogenanntes Heimkataster für das Gebiet Hessen und Nassau zu erstellen. So kann jemand, der sagt, er war in seiner Kindheit irgendwo in der Nähe von Limburg, hoffentlich nachvollziehen, in welchem Heim er oder sie gewesen ist.

Wem hilft das Heimkataster?

Knötzele: Jedem, der sich einen Überblick verschaffen möchte, weil er betroffen ist. Im Heimkataster haben wir 430 staatliche, freie und Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft aufgeführt. 43 davon in evangelischer Trägerschaft. Betroffene können darin recherchieren, wo sie gelebt haben. Wir haben nach Möglichkeit ermittelt, wer damals Träger war und es heute ist, wie groß die Einrichtungen waren und sind und ob es Namenswechsel gegeben hat. Auch Umzüge haben stattgefunden und es hat eine kommunale Gebietsreform gegeben. Wir erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weil es so viele Heime nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat

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Die Mädchen des Kinderheims spielen im Garten des ehemaligen Kloster Arnsburg mit ihren Betreuerinnen.

Wie sind sie bei der Aufarbeitung vorgegangen?

Knötzele: Für das Heimkataster hat eine Historikerin über fünf Jahre hinweg Akten in Archiven studiert und wir haben Hinweise von einzelnen Personen bekommen. Das ist eine mühevolle Kleinarbeit. Die zweite Aufgabe war es, Zeitzeugen zu interviewen. Das haben wir zu dritt gemacht. Zeitzeugen-Interviews sind eine exemplarische Arbeit; Wir sind auf sehr unterschiedliche Personen gestoßen. Zum einen haben wir mit betroffenen Menschen gesprochen, die als Kind im Heim waren. Zum anderen mit Erziehungspersonal, das damals im Heim gearbeitet hat. Zusätzlich hat die Kirchenleitung die Filmemacherin Sonja Toepfer beauftragt, Gespräche mit ehemaligen Heimkindern zu führen und daraus einen Film zu erstellen.

"Im Pflegebereich kann es geschehen, dass Menschen ähnlich ihrer Würde beraubt werden, wie es damals vielen Kindern geschehen ist"

Wofür ist die dokumentarische Begleitung der Filmemacherin gut?

Knötzele: Uns ging es darum, Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Gemeinsam war fast allen, dass sie sich nicht als Einzelpersonen wahrgenommen gefühlt haben in den Heimen. Teilweise hatten die Kinder statt Namen Nummern, mit denen sie angesprochen worden sind. Sie waren Teil einer Masse, das Funktionieren der Institution stand vor dem Wohl der Einzelnen. Es gab auch kein Interesse in der Gesellschaft zu erfahren, wie es ihnen als Kind oder später ergangen ist. Unser Anliegen war deshalb, ihnen Gehör zu verleihen. Sie sollen stellvertretend für andere erzählen, was sich in den Heimen abgespielt hat.

Sehen Sie die Gefahr, dass sich ein solcher Umgang mit Menschen in unserer Gesellschaft fortsetzen könnte?

Knötzele: In Institutionen, die unbeachtet von der Öffentlichkeit Menschen betreuen, beispielsweise im Pflegebereich, kann es geschehen, dass Menschen ähnlich ihrer Würde beraubt werden, wie es damals vielen Kindern geschehen ist. Deshalb sollen die Geschichten, die wir gehört haben und nun weitererzählen, sensibilisieren. Sie sollen ein Bewusstsein schaffen, was passieren kann, wenn nicht mehr der einzelne Mensch und seine Würde und Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, sondern eine Organisation, die reibungslos funktionieren will oder Personaldruck da ist, oder falsch qualifiziertes Personal eingesetzt wird.

Sie haben aus den Ergebnissen ihrer Arbeit eine Ausstellung und pädagogisches Material erarbeitet. Wer profitiert davon?

Knötzele: Der Film und die Ausstellung werden offiziell am 25. Juni 2018 der Öffentlichkeit präsentiert. Sie besteht aus zehn Zeittafeln, die einen Überblick geben sollen: Wie ist die Entwicklung der Kinderrechte? Wie hat sich das Arzneimittelrecht entwickelt? Wie viele Heime gab es? Was waren die Gründe dafür, dass Kinder im Heim untergebracht werden mussten? Schwerpunkt der Ausstellung sind Zitate aus den Gesprächen mit den Zeitzeugen. Davon, was die Betroffenen weitergeben, sollten wir auch für heutige Erziehung und pädagogische Ansätze lernen.

Wir möchten die Ausstellung in heutigen pädagogischen Einrichtungen zeigen, dort, wo Kinder aufwachsen. Zum Beispiel bieten wir sie Hephata im nordhessischen Treysa an. Zudem sollen die Einrichtungen jeweils die Möglichkeit haben ein Stück ihrer eigenen Geschichte aufzuarbeiten und eine eigene Tafel beizutragen. Wir stellen uns eine sich ergänzende Ausstellung vor. Auch in Ausbildungseinrichtungen, wie der Evangelischen Hochschule oder in der Pädagogischen Akademie Elisabethenstift in Darmstadt wollen wir sie zeigen. Überall dort, wo Menschen qualifiziert werden für die pädagogische Arbeit mit Kindern oder auch den Pflegebereich, können der Film und unsere Ausstellung eingesetzt werden.