Barbara Koll steigt in den ersten Stock der ehemaligen Villa am Rande des niedersächsischen Heidestädtchens Soltau. Sie öffnet die Tür zu einem der Zimmer. Gleich mehrere Betten stehen bereit - nagelneu, die Matratzen noch in Folie verpackt. "Eigentlich hätte hier bald das Leben getobt", sagt die 64-Jährige. Doch die Kinder aus der Gomel-Region können erst einmal nicht in die "Heidenhof Villa" kommen. "Wir hoffen auf Herbst", sagt Koll, die derzeit reichen Mail-Kontakt nach Belarus pflegt. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten in der Hilfe für Tschernobylkinder. Da findet der Kontakt in Corona-Zeiten neue Wege, auch wenn es nur die zweitbesten sind. "Wer ins Herz getroffen ist, bleibt dabei", sagt sie.
Am 26. April 1986 ereignete sich im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl ein schwerwiegender Unfall. Die radioaktive Stoffe gingen zu etwa 70 Prozent über Belarus nieder. Noch nach 35 Jahren ist Tschernobyl auch für viele Deutsche das Symbol für die atomare Katastrophe schlechthin. Mit der Öffnung des "Eisernen Vorhangs" begann in den Folgejahren zugleich ein Engagement, das nach dem "Kalten Krieg" Ost und West verband. Initiativen unter anderem in den USA, Italien, Japan und Deutschland organisierten Hilfen für die Opfer von Tschernobyl.
"Hunderte Gruppen haben in Deutschland Hunderttausende Kinder eingeladen", sagt Lars Torsten Nolte, der die Aktion der hannoverschen Landeskirche koordiniert. Beim ersten Mal empfing die evangelische Landeskirche 1991 rund 1.100 Kinder und ihre Begleiter zu Ferienwochen abseits ihrer strahlenverseuchten Heimat. Rund 30.000 jungen Gästen wurde seitdem ein Aufenthalt in deutschen Gastfamilien oder Freizeiteinrichtungen ermöglicht. Die Pandemie macht dies schon im zweiten Jahr unmöglich.
Zwar will die Landeskirche rund 150 Mädchen und Jungen aus der stark betroffenen Gomel Region eine Erholungszeit im eigenen Land ermöglichen. Dennoch könnte die Zäsur verstärken, was bundesweit bereits seit langem gilt: "Über die Jahrzehnte ist das Engagement vielerorts zurückgegangen oder ganz eingeschlafen", sagt Nolte. Viele der bisherigen Gastgeber seien im Großelternalter und Nachwuchs schwer zu finden, da heute oft beide Partner berufstätig sind. "Prognosen zu treffen, wie es weitergeht, fällt schwer."
Bei manchen allerdings, die sich seit wie Barbara Koll von Beginn an engagieren, hat die Tschernobyl-Hilfe Lebenswege geprägt. Der frühere Sozialdiakon Paul Koch aus Schöppenstedt ist zum Mahner vor den Gefahren der Atomkraft geworden. Zuletzt haben er und andere, das eine Petition an das Bundesamt für Strahlenschutz geschickt. Sie kritisieren, dass die Behörde es nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima 2011 für denkbar hält, dennoch Wettkämpfe der olympischen Spiele dort stattfinden zu lassen. "Das kann doch nicht wahr sein!", empört sich der 73-Jährige.
Koch kramt Fotos hervor, auf denen er bärtig mit schwarzem Anzug vor einer Gruppe von Kindern in Trachtenkleidung in der Kirche steht. Anfang der 1990er Jahre gehörte auch er zu den Organisatoren erster Erholungsferien. "Das halbe Leben habe ich mich damit beschäftigt", sagt er. "In verschiedenen Aktionsformen."
Auf seine Initiative hin hätte zuletzt eine Wanderausstellung mit Werken regimekritischer belarussischerer Künstler nach Braunschweig kommen sollen. Auch Veranstaltungen, die er in den "Europäischen Aktionswochen für eine Zukunft nach Tschernobyl und Fukushima" in der Region organisiert, müssen gerade pausieren. Dass insgesamt das Thema aus dem Blick rückt, bedauert Koch. Denn die Katastrophe wirke fort. Er selbst will nicht nachlassen. "Es ist ein Kampf 'David gegen Goliath' - wir Christen wissen, dass hin und wieder auch der kleine David siegt", sagt Koch und fügt an. "Dabei geht es nicht um Sieg, sondern um die Gesundheit der Menschen und der nachfolgenden Generationen."
Auch Barbara Koll hat Zukunftspläne. Seit vielen Jahren organisiert sie maßgeblich die Ferienlager für Kinder vor allem aus Belarus und der Ukraine im "Heidenhof" der Renate Szlovak Stiftung. Gerade wird die Villa mit Park und Spielplatz renoviert. Da ist die 64-Jährige aus dem benachbarten Schneverdingen häufig vor Ort. Gerne würde sie eine Jahrespraktikantin aus Belarus engagieren, um jüngere Unterstützung zu haben. "Wichtig sind die persönlichen Kontakte", betont sie. Dann könnten Freundschaften entstehen, wie ihre mit der Dolmetscherin Tatjana Dudarenko aus einem Dorf in der Gomelregion, deren jüngste Tochter ihr Patenkind ist. "Wir können uns gerade nicht sehen, aber ich denke mich zu ihr."