Auch das noch. Als hätte der kleine Familienzirkus, der auf einer Wiese auf der Schwäbischen Alb in Weidenstetten gestrandet ist, nicht genug Probleme. Die Plane des Tierzelts ist eingerissen - eine Reparatur nicht mehr möglich. Karl Brumbach steht vor dem blau-rot-gelben Haufen, der einmal ein Zelt war, und erzählt vom plötzlichen Schneeeinbruch vor wenigen Tagen: "Der Schnee gab dem Zelt den Rest." Eine neue Plane würde zwischen 4.000 bis 5.000 Euro kosten, schätzt der 26-Jährige. Unbezahlbar derzeit für die Zirkusfamilie Brumbach, für die es schon eine Herausforderung ist, täglich genügend Futter für die Tiere zu beschaffen.
Diese sind nun in einem ehemaligen Kuhstall direkt neben den Wohnwagen untergebracht. Lama, Esel, Ziegen und ein Pony laufen hektisch durcheinander, das Kläffen der Hunde hallt durch den dämmrigen Raum - die Tiere scheinen sich noch nicht an ihre neue Unterkunft gewöhnt zu haben. An einer Leine im Stall hängt Wäsche zum Trocknen, zerrissene Zirkusplakate liegen auf dem Boden.
Seit November 2019 lagert der Zirkus "Melody" mit seinen vier Wohnwagen und mehreren Anhängern für Zelt und Ausrüstung bereits auf dem Privatgrundstück eines Bauern. Eigentlich wollte man im Februar dieses Jahres nach der Winterpause wieder auftreten - doch dann kam der Corona-Lockdown. Auch im Sommer gab es keine Auftrittsmöglichkeiten und damit auch keine Einnahmen. Längst hat die Zirkusfamilie eine behördliche Aufforderung, den Platz zu räumen - aber wo soll sie hin?
Kein Platz zum Unterkommen
Der Zirkus "Melody" ist keine Ausnahme, erzählt Zirkuspfarrer Johannes Bräuchle aus Stuttgart: Viele Zirkusbetriebe säßen aufgrund der Pandemie-Maßnahmen fest, einige fänden nach vielen Monaten außerordentlichen Campierens schlichtweg keinen Platz mehr, wo sie unterkommen könnten.
Vor zwei Wochen besuchte Bräuchle die Familie Brumbach auf der Wiese in Weidenstetten. Der Regen hatte die Wiese in Matsch verwandelt. Was er sah, erschütterte ihn: Das Geld der Grundsicherung war aufgebraucht, die Familie fror, weil sie sich das Gas nicht leisten konnte und hatte kaum etwas zu essen. Er brachte einen Sack Kartoffeln, eine Gasflasche und eine Unterstützung aus dem Nothilfefonds der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorbei, erzählt der Zirkuspfarrer, der in Südwestdeutschland für rund 7.000 Schausteller und Zirkusleute zuständig ist. "Das ist eine Tragödie unverstellbaren Ausmaßes."
Normalerweise reist er für Gottesdienste oder Taufen zu den Familien, oder ab und zu auch, um bei einem Zwist zu schlichten. "Aber seit der Pandemie erlebe ich eine Not bei den Familien, die es bisher nicht gab."
Nichts zu essen
Bei der Familie Brumbach ist - auch durch seinen Einsatz - nun Besserung in Sicht: Die Artisten haben jetzt die Erlaubnis erhalten, in einem Heidenheimer Einkaufszentrum Spenden zu sammeln, die Wohnwagen sind wieder beheizt, ein von Bräuchle initiierter "Runder Tisch" aus Diakonie, Kirche, Bürgermeister und Ordnungsamt half, Mahnungen von nicht bezahlten Kfz-Steuern, Krankenversicherungen und andere nicht gedeckten Kosten zu stunden.
Sein Ziel ist, den Zirkusfamilien zu helfen, an die Hilfen von Behörden zu kommen, berichtet Bräuchle. Oft seien die Bürokratiehürden einfach zu hoch, sagt er - zumal viele nicht in der Lage seien, Formulare auszufüllen, weil sie nicht lesen und schreiben könnten.
Auch Torsten Heinrich, Gesamtleiter der Circus- und Schaustellerseelsorge der EKD (Hofheim am Taunus), hat erlebt, dass Zirkusfamilien bei ihm anriefen, und sagten, dass sie nichts zu essen hätten, bis die Grundsicherung komme. "Manche schlittern da wirklich heftigst in die Katastrophe."
Handstand im Schnee
Viele der etwa 300 kleinen reisenden Familienzirkusse in Deutschland stünden vor dem Problem, dass sie nur schwer Zugang zu den Corona-Hilfen der Bundesregierung hätten. Der Antrag muss über einen Steuerberater laufen, den sie sich in aller Regel nicht leisten könnten. "Dann fällt das für sie flach, und sie kommen nicht an die Hilfe ran."
Ilano Royan und seine Lebensgefährtin Teresa Brumbach laden in den Wohnwagen zu einer Tasse Tee ein. Ihr dreijähriger Sohn Marianu schaut einen Zeichentrickfilm, der zweijährige Marcello weint, er ist müde. Royan zeigt auf seinem Smartphone das Zirkuszelt der Familie bei einem der Auftritte im vergangenen Jahr, der Himmel ist strahlend blau: "Bis zu 300 Menschen haben dort Platz." Doch nun: monatelang keine Auftritte in der Manege, kein Applaus. Der Zustand zermürbt ihn sichtlich. "Für uns ist es schon eine Qual, mehr als eine Woche an einem Ort zu wohnen, jetzt ist es die Hölle."
Der 17-jährige Marlon Romano Brumbach macht einen Handstand im Schnee. Aus ihm sprudelt heraus, was er im normalen Zirkusleben alles macht: Balance auf Stühlen, Wildwest-Show, Feuerspucken, Messerwerfen. Und jetzt? Steht er um fünf Uhr morgens auf, um die Tiere zu füttern und ansonsten sammelt er Spenden. Einige Menschen behandelten ihn sehr unfreundlich: "Für manche bin ich ein Stück Dreck", sagt er bitter.
Dabei ist der Artist stolz darauf, dass er zu einem Familienzirkus gehört, der bereits in der sechsten Generation im ganzen Land auftritt. Er wolle, dass die Zirkuskultur erhalten wird. Diese werde in Deutschland zu wenig wertgeschätzt: "Wir wollen doch auch nur eines: menschlich leben."