Als Katharina Kracht in einer Nacht im August 2015 im Internet einen Hinweis auf eine Ansprechstelle für Opfer sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche findet, ist sie erleichtert. Sie habe nicht gezögert, eine Mail an die angegebene Adresse zu senden und sich damit als Opfer zu offenbaren, schildert Kracht heute. "Ich glaubte, hier bin ich in sicheren Händen, ich hab es doch mit der evangelischen Kirche zu tun." Heute empfindet sie diese Annahme als "naiv".
Stattdessen sei sie auf einen Flickenteppich an zuständigen Stellen gestoßen, der intransparent und verwirrend sei. Sie sei in den 90er Jahren von einem Pfarrer ihrer Gemeinde über mehrere Jahre missbraucht worden, berichtet Kracht in einem von Betroffenen organisierten Pressegespräch, kurz bevor das Kirchenparlament der evangelischen Kirche am Sonntag und Montag auch über das Thema Missbrauch berät.
Kracht ist eine von rund 881 Betroffenen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und in der Diakonie, die sich an die Kirche gewandt haben. Wie groß die Dunkelziffer ist, ist unklar.
"Die Betroffenen sind nicht überzeugt"
Nicht nur Kracht, sondern auch weitere Betroffene kritisieren die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre 20 Landeskirchen für den Umgang mit den Opfern. Die Zentraleanlaufstelle "help", im vergangenen Jahr gegründet, verweise die Hilfesuchenden nur weiter an die bestehenden Ansprechstellen der Gliedkirchen. Es ist der "Flickenteppich", von dem Kracht spricht.
Die zentrale Anlaufstelle ist ein Punkt im Elf-Punkte-Handlungsplan, den die EKD auf ihrer Synode 2018 beschlossen hat und von dem der zuständige Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt am Montag auf der Synode sagte, alle Punkte seien entweder bereits umgesetzt oder befänden sich in der Umsetzung. Dazu zählt auch eine große Aufarbeitungsstudie eines unabhängigen Forschungsverbunds, mit der im Dezember begonnen werden soll.
"Die Betroffenen sind nicht überzeugt", heißt es aber in einer Presseerklärung von Montag, die vier Betroffene, darunter auch Kracht, veröffentlicht haben. Die EKD bestimme nämlich weitgehend selbst darüber, wann ein Punkt abgearbeitet sei. Kracht und ihre Mitstreiter fordern daher Unabhängige Aufklärungskommissionen nach dem Modell des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, damit die Aufklärungsarbeit der Kirche von staatlichen Stellen begleitet wird. Die EKD steht laut der bisherigen Sprecherin des Beauftragtenrates, Kirsten Fehrs, mit dem UBSKM in Verhandlungen. Die katholische Kirche etwa unterzeichnete eine Vereinbarung über unabhängige Aufarbeitung bereits im Juni.
Transparente und verständliche Strukturen angemahnt
Auch an den sogenannten Unabhängigen Kommissionen zur Anerkennung erlittenen Leids, die über materielle Leistungen für Missbrauchsopfer entscheiden sollen, üben die Betroffenen Kritik. Für ein einheitliches Verfahren ist auf EKD-Ebene eine Musterordnung erarbeitet worden, die Vergleichbarkeit und Transparenz über alle Landeskirchen hinweg garantieren soll. Um Mittel zu erhalten, sollen die Betroffenen nachweisen, dass ein institutionelles Versagen der Kirche mitursächlich für das erlittene Leid war, so steht es in Paragraf 3 der Musterordnung, die dem epd vorliegt.
Das sei absurd, sagen die Betroffenen. Ein im September neu gegründeter Betroffenenbeirat hatte dem Entwurf der Musterordnung nach Aussage von Detlev Zander, Mitglied des Beirats, nicht zugestimmt. Fehrs sagte dem epd am Montag, unter Nachweis sei lediglich zu verstehen, dass die sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche stattgefunden habe und nicht zum Beispiel in einer katholischen oder anderen Einrichtung. Ansonsten gelte wie eh und je, dass es in den Unabhängigen Kommissionen vollkommen reiche, plausibel zu machen, dass ein Übergriff und sexualisierte Gewalt stattgefunden hat. Darüber seien die Mitglieder des Betroffenenbeirats im September auch informiert worden. Fehrs zeigte sich offen dafür, die eventuell missverständliche Formulierung abzuändern. Von Anfang an sei geplant gewesen, diesen Entwurf einer Musterverordnung in aller Ruhe mit dem Betroffenenbeirat zu beraten und zu bearbeiten.
Auf Betroffenenseite erzürnt war man auch darüber, dass keiner ihrer Vertreter zur Synode eingeladen wurde. Synodenpräses Irmgard Schwaetzer verwies am Montag auf die wegen der Pandemie verkürzte und rein digital tagende Synode, zu der keinerlei Gäste geladen worden seien. Im kommenden Jahr sollten die Betroffenen aber wieder beteiligt werden, so ihre Empfehlung.
Für Kracht ist wichtig, dass in Zukunft alle Betroffenen auf transparente und verständliche Strukturen treffen, gerade für diejenigen, die Schwierigkeiten im Umgang mit bürokratischen Institutionen hätten. Sonst würden gerade die Schwächsten weiter benachteiligt. Sie hat sich entschieden, im Betroffenenbeirat der EKD für die Belange der Opfer sexualisierter Gewalt einzutreten.