epd: Durch Corona scheint das Thema Missbrauch und seine Aufarbeitung in der Kirche in den Hintergrund getreten zu sein.
Nikolaus Blum: Nein, das Missbrauchsgeschehen bleibt leider ein großes und wichtiges Thema, gerade auch für die Öffentlichkeit. Es ist bedauerlich, dass die Aktivitäten der evangelischen Kirche auf diesem Gebiet im Moment nicht so deutlich sichtbar werden. Das liegt unter anderem daran, dass es in Deutschland zwanzig verschiedene evangelische Landeskirchen gibt, die mit unterschiedlichen Verfahren die Fälle der sexualisierten Gewalt aufarbeiten. Deshalb hat es sich die EKD zur Aufgabe gemacht, die Praxis zu vereinheitlichen, insbesondere durch das 11-Punkte-Programm, das die EKD-Synode im Jahr 2018 verabschiedet hat. Bei der Umsetzung verzeichnen wir große Fortschritte.
Wie sehen die denn aus?
Blum: In allen Landeskirchen gibt es inzwischen Unabhängige Kommissionen, die betroffenen Menschen Anerkennungsleistungen zusprechen. Sie stehen untereinander in einem engen Austausch mit dem Ziel, die teilweise noch unterschiedliche Praxis im Laufe der nächsten Jahre anzugleichen. Auf EKD-Ebene sind ein Beauftragtenrat und ein Betroffenenbeirat ins Leben gerufen worden. Im Herbst startet eine große wissenschaftliche Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den evangelischen Landeskirchen. Weiterhin ist eine bindende Gewaltschutzrichtlinie verabschiedet worden. Über alle Fortschritte wird im Rahmen der EKD-Synode Anfang November berichtet.
"Bayerische Landeskirche ist dabei eine Vorreiterin"
Wie arbeiten die Unabhängigen Kommissionen?
Blum: Die Kommissionen sind mit Fachleuten besetzt. Völlig unabhängig von kirchlichen Weisungen sehen sie sich die einzelnen Fälle an und legen die Anerkennungsleistungen fest. Dabei orientieren sie sich an der staatlichen Rechtsprechung und Schmerzensgeldübersichten. Die bayerische Landeskirche ist dabei eine Vorreiterin, weil hier bereits seit 2015 die Unabhängige Kommission arbeitet und in Fällen, in denen nach staatlichem Recht Verjährung eingetreten ist, Anerkennungsleistungen zuspricht. In den letzten Jahren hat die Landeskirche in 40 Fällen insgesamt über 700.000 Euro an Anerkennungsleistungen gezahlt. In neueren Fällen verfolgen wird die generelle Linie, dass wir uneingeschränkt das staatliche Rechtsverfolgungssystem unterstützen und eng mit Staatsanwaltschaften und Polizei kooperieren. Deshalb akzeptieren wir es auch, wenn Täter aus dem Kirchendienst oder auch die Organisation selber verklagt wird.
Welche Hilfen können die die Missbrauchs-Opfer darüber hinaus noch bekommen?
Blum: Betroffene Menschen können auch Unterstützungsleistungen erhalten, beispielsweise für eine therapeutische Begleitung, wenn sie von den Krankenkassen nicht getragen wird. Unterstützt werden vor allem die Menschen, die keine staatlichen Leistungen mehr erhalten, weil ihre Fälle inzwischen verjährt sind. Darüber hinaus können diese Menschen mit ihren oft sehr schmerzvollen Erfahrungen jede nur mögliche seelsorgerliche Begleitung erhalten, falls sie nach ihren schlimmen Erlebnissen mit der Kirche noch in Kontakt sind oder den Kontakt wieder suchen. Verständlicherweise haben viele Betroffene aber auch den Kontakt abgebrochen.
"Die Opfer von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt leiden ihr ganzes Leben lang darunter"
Rechnen Sie damit, dass dieses schlimme Kapitel einmal abgeschlossen sein wird?
Blum: Dieser Illusion dürfen wir uns nicht hingeben. Denn dieses Thema wird niemals abgeschlossen sein, weil die Opfer von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt ihr ganzes Leben lang darunter leiden. Oft sind sie überhaupt erst nach vielen Jahren in der Lage, ihre Traumata zu artikulieren. Das ist ja gerade das besonders Perfide an den Missbrauchsfällen, dass sich um sie herum ein Schweigekartell gebildet hat und dass Vertrauen und Verschwiegenheit in übelster Weise ausgenutzt wurden.
Neben den Bemühungen der individuellen Aufarbeitung zusammen mit den Betroffenen bleiben die Prävention von sexualisierter Gewalt und die klare Positionierung der Kirche zu diesem Thema eine dauernde Verpflichtung. Dafür haben wir Strukturen aufgebaut, die wir noch weiter verstärken werden. Trotz der angespannten Finanzlage werden in diesem und nächste Jahr zusätzliche Mittel für die Umsetzung von Präventions- und Interventionskonzepten bereitgestellt.