epd: Sie sind seit wenigen Wochen im Sabbatjahr. Wofür haben Sie jetzt mehr Zeit?
Michael Diener: Reisen, Zeit für Gespräch, Lesen, Atem holen, Orientieren. Ich bin jetzt 58 Jahre alt. Wenn mein Sabbatjahr zu Ende ist, bin ich wohl noch etwa acht Jahre berufstätig. Deswegen war es mir wichtig, jetzt noch einmal innezuhalten. Ich war Pfarrer, Dekan, Vorsitzender eines freien Werkes und hab mich ehrenamtlich stark engagiert. Was jetzt kommen soll, weiß ich noch nicht.
Erst hieß es, Sie würden 2021 noch einmal zur Wahl als Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands zur Verfügung stehen. Wie kam es, dass Sie doch nicht erneut kandidieren?
Diener: Im Nachhinein muss ich sagen, ich hätte mich von Anfang an so entscheiden sollen. Ich habe gerade von meiner Dankbarkeit gesprochen. Aber es gab auch immer wieder Auseinandersetzungen. Der Gnadauer Vorstand hat mir vergangenen Sommer signalisiert, dass ich noch mal antreten soll. Was dann an vereinzelten kritischen Reaktionen auf die Ankündigung meiner erneuten Kandidatur folgte, war in der Art und Weise nicht hilfreich oder geschwisterlich und ließ erwarten, dass ich zu viel Kraft für die interne Kommunikation brauchen würde. Und daher habe ich doch auf die erneute Kandidatur verzichtet. Dazu kommt: Ich habe mich im Laufe der elf Jahre verändert. Manche finden das schwierig. Ich finde das wichtig. Der Satz "Du bist ganz der Alte" hat für mich etwas Furchterregendes. Ich möchte mich verändern!
Was wurde Ihnen vorgeworfen?
Diener: Manche meinten, ich hätte mich verändert, um mich an die liberalere EKD anzubiedern. Dabei war ich immer schon beides: Mann der Kirche und Pietist. Ich habe in meinem Verband vor allem einen zugewandten und zukunftsgewandten Pietismus erlebt. Aber ich habe auch einen gesetzlichen, abgekapselten Pietismus erlebt und Formen von Biblizismus und Fundamentalismus, die ich für Sünde halte, weil sie der geschichtlichen Offenbarung Gottes widersprechen.
"Ich bin weiter und offener geworden, weil ich das Destruktive dieses Glaubensprofils erlebt habe."
Meine Veränderung ist nicht durch eine Anbiederung an Gremien oder Menschen zustande gekommen, sondern dadurch, dass ich gesehen habe, was Gesetzlichkeit im Glauben anrichten kann. Ich bin weiter und offener geworden, weil ich das Destruktive dieses Glaubensprofils erlebt habe. Ich möchte für manches Destruktive auch nicht mehr geradestehen.
Inwiefern haben Sie sich verändert?
Diener: Erstens: Die Beteiligung von Frauen an Leitungsfunktionen. Das ist in weiten Teilen der Gemeinschaftsbewegung eigentlich kein Problem. Trotzdem sind wir ein Männerhaufen. Da passiert mir die Veränderung zu langsam. Zweitens: Das Verhältnis zum Islam. Für ganz viele in meiner Bewegung ist der Islam Ziel von Mission. Selbst wenn man die missionarische Frage offenhält, muss man als Angehöriger einer Religionsgruppe in einem Gemeinwesen andere Religionsgruppen ernstnehmen und in einem Gemeinwesen zusammenarbeiten.
Drittens: Die politische Dimension des Glaubens. Sie ist für mich immer wichtiger geworden. Glaube ist gelebtes Leben und geschieht dadurch im öffentlichen Raum. Mit meinen Positionen zur Migrationspolitik oder meine Unterstützung der Seenotrettung vertrete ich auch nicht alle. Dazu kommt viertens meine Haltung in ethischen Fragestellungen, zu denen auch die Haltung gegenüber Homosexuellen gehört.
Zu Beginn Ihrer Amtszeit im EKD-Rat 2015 haben Sie genau deswegen unter Evangelikalen und Pietisten eine Debatte ausgelöst. Anlass war ein Interview, in dem Sie sagten, ihre Bewegung müsse toleranter gegenüber gelebter Homosexualität sein. War Ihnen bewusst, was Sie damit auslösen würden?
Diener: Ich hatte das gleiche schon ein Jahr zuvor in einem Präsesbericht vor der Gnadauer Mitgliederversammlung gesagt. Das hat damals keine Wellen geschlagen. Aber zum Zeitpunkt des Interviews war ich auf einmal Mitglied des Rates, Vorsitzender der Evangelischen Allianz und Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands - das gab es vor mir noch nicht. Und für manche, die meine Positionen schon vorher kritisch sahen, war dieses Interview dann ein Anlass, ihre Kritik öffentlich zu äußern. Ich kann sogar verstehen, dass das Interview einige Menschen innerhalb meiner Bewegung irritiert hat. Es wirkte so, als redete da einer in der Öffentlichkeit schlecht über seine eigenen Leute. Das war nie meine Absicht.
Der konservative Prediger Ulrich Parzany hat das "Netzwerk Bibel und Bekenntnis" gegründet als Reaktion auf Ihre Haltung.
Diener: Das bekenntniskonservative Lager hat sich formiert. Das musste irgendwann kommen. Jeder, der heute darauf schaut, merkt, dass es aber zahlenmäßig irrelevant ist. Es ist eine kleine Gruppe in der evangelikalen Bewegung. Es tut mir leid, dass manchmal der Eindruck erweckt wird, die ganze Bewegung sei so.
Sie haben damals auf die Bibel verwiesen, was evangelikale Christen oft tun. Grämt es Sie, dass man Sie damals so angegangen hat?
Diener: Das war eine harte Zeit - auch für meine Familie. Da gab es Wunden, die Zeit zum Heilen brauchten. Ich habe mir danach Gedanken macht, wie wir innerhalb der Bewegung miteinander umgehen. Wieso missachten gerade diejenigen, die den Glauben so ernst nehmen, Grundsätze wie Nächstenliebe und Respekt vor der Würde des Anderen?
Danach haben Sie größere Interviews vermieden. Warum?
Diener: Jeder, der mich interviewt, will mich zur Thematik der Sexualität fragen. Ich hatte als Präses die Aufgabe, die ganze Gemeinschaftsbewegung zu repräsentieren - auch den konservativen Flügel. Ich wäre meinem Amt mit weiteren polarisierenden Äußerungen nicht gerecht geworden, was auch ein Grund für meine jetzige Entscheidung war, nicht erneut zu kandidieren. Denn das Amt legt mir in zu vielen Fragen einen Maulkorb auf.
"Ich bedauere die Verletzungen und Verurteilungen, die ich durch meine frühere Haltung homosexuellen Menschen zugefügt habe"
Meine Haltung zur Homosexualität etwa hat sich von 2011 an bis heute von einer völlig konservativen bis hin zu einer völlig offenen entwickelt. An mir kann man deshalb auch ablesen, wie schwer das für jemanden ist, der in diesen Fragen konservativ geprägt und erzogen wurde, diese Einstellung und die dahinterstehenden theologischen Positionen loszulassen. Ich bedauere die Verletzungen und Verurteilungen, die ich durch meine frühere Haltung homosexuellen Menschen zugefügt habe und gehöre zu denen, die in dieser Frage die pietistische und evangelikale Bewegung zur Umkehr auffordern.
Sie haben damals noch eine Segnung gleichgeschlechtlicher Paare abgelehnt, wie sie heute mit einer Ausnahme in allen Landeskirchen praktiziert wird. Hat sich Ihre Meinung dazu geändert?
Diener: Ich bin heute der festen Überzeugung, dass das, was die Heilige Schrift unter homosexuellen Handlungen beschreibt, nicht das ist, was wir heute unter Homosexualität verstehen. Homosexuelle Menschen haben dasselbe Recht in ihrer Sexualität ernstgenommen, in der Gemeinde wertgeschätzt und geliebt, gesegnet und begleitet zu werden. Ich sage das auch im Blick auf die homosexuellen Menschen in den frommen Bewegungen und Gemeinden, welche immer noch Angst haben, sich zu outen. Das ist schlimm.