"Wir träumen von Gemeinde, in der jede*r willkommen ist – egal ob lesbisch, schwul, bi, trans oder anders queer". In großen Lettern stand auf einem Schild am Eingang des Tagungssaales, was die Teilnehmenden der Konferenz miteinander verbindet. Über 400 Menschen kamen am vergangenen Samstag im hessischen Niederhöchstadt zur Coming-In-Konferenz zusammen. Die rund achtstündige Veranstaltung umfasste Vorträge von David Gushee und Michael Diener, siebzehn verschiedene Workshops, Austauschrunden sowie einen Gottesdienst und mehrere Lobpreiszeiten.
Das Besondere an der Veranstaltung: Die meisten Besucher:innen waren Allies. Allies ist das englische Wort für Verbündete. Als Allies werden Personen bezeichnet, die heterosexuell lieben und sich als cisgeschlechtlich identifizieren, ihr Einsatz gilt den Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben und/oder die ihre Geschlechtlichkeit unter Begriffen wie transgeschlechtlich, intergeschlechtlich, divers, non-binär oder gender-queer fassen. Während es Bewegungen von Allies schon seit vielen Jahrzehnten gibt, vereint die Menschen, die sich am Samstag zum Coming-In versammelt haben, eine weitere Besonderheit: Sie alle haben einen sogenannten frommen geistlichen Hintergrund. Fromm ist hier nicht in dem Sinne gemeint, dass nur eine spezifische Form des christlichen Glaubens wahrhaft fromm wäre, sondern als umgangssprachlicher Sammelbegriff für Christ:innen mit evangelikaler, post-evangelikaler, charismatischer oder pietistischer Prägung. Viele von ihnen stammen aus freien Gemeinden. Das Coming-In ist eine Initiative, in der sich diese Allies sammeln und vernetzen. Die zurückliegende Tagung des Coming-In ist das bislang größte Präsenzevent der Initiative. Veranstaltet wurde die Konferenz von Zwischenraum e.V. in Kooperation mit der evangelischen Andreasgemeinde Niederhöchstadt.
Redner des ersten der beiden Vorträge war David Gushee. Gushee ist Professor für Christliche Ethik an der baptistischen Mercer-Universität (Macon/US-Bundesstaat Georgia) und Dozent an der Freien Universität Amsterdam. Sein Buch Changing Our Mind hat besonders im frommen US-amerikanischen Milieu einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz sexueller Vielfalt geleistet.
Zu Beginn seiner Ausführungen machte Gushee deutlich, dass nicht "LGBTQ-Menschen" das Problem sind, sondern deren Ablehnung durch einen Teil der christlichen Gemeinschaft. Dass er dies für grundlegend falsch hält, begründet der Theologe mit dem Verweis auf den Bund, den Jesus Christus mit seinen Nachfolger:innen durch seinen Kreuzestod geschlossen hat . "Queere Christ:innen sind wie alle anderen Christ:innen in die grundlegende Gleichheit, Würde und Teilhabe des neuen Bundes mit Jesus Christus einbezogen. Im neuen Bund gibt es keine Klassenstufen erster und zweiter Klasse*", erklärt Gushee. Eine solche diskriminierende Hierarchisierung betrieben allerdings viele Gemeinden, indem sie zwar sagten, alle seien willkommen, aber in einer ganz anderen Weise handelten. Er illustriert diese Diskrepanz an Beispielen wie, dass "queere Christ:innen" zwar im Gottesdienst mitsingen, aber den Lobpreis nicht leiten dürfen, dass sie die Lesung der Bibel anhören, aber diese nicht halten dürfen oder dass sie sich zwar taufen lassen können, aber nicht Pfarrer:in werden dürfen, um andere zu taufen. Gemeinden, die so verfahren, machten, "das innere Prinzip des Bundes […] unsinnig", sagt Gushee und folgert: "Das kann einfach nicht sein, wenn die Kirche die Kirche sein soll. In diesem Sinne sind es die Traditionalist:innen, die sich von der klaren Lehre der Schrift entfernen, nicht diejenigen von uns, die für die volle Würde und Teilhabe aller Christ:innen eintreten". Auch die christliche Ehe sei ein Bund, sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Gott und Menschen, stellt der Theologe heraus und bekennt sich als klarer Verfechter einer christlichen Sexualethik, die dies vertritt.
Die christliche Tradition habe Menschen durch die Ehe gute rechtliche, moralische und kirchliche Strukturen gegeben, sowie die Hilfe der christlichen Kirche für diejenigen, die sich bemühten, eheliche Bündnisse zu schließen und einzuhalten. Gushee stellt fest, dass es zu einem "Zusammenbruch des Konzepts der lebenslangen Bundesehe" gekommen sei und dass dies "das größte sexual-familien-ethische Problem unserer Zeit" sei und nicht die Problematisierung von LGBTIQ. Er spricht sich dafür aus, dass die christliche Ehe "für alle geöffnet werden muss, die Teil der Gemeinschaft des neuen Bundes sind" und erklärt weiter: "Heterosexuelle Christ:innen haben in den Kirchen […] immer einen Rahmen gefunden, in dem sie bereit waren, den Bund der Ehe zu schließen und zu halten. Queer-Christen", hätten dies nicht tun können, "was ihren Status als Menschen zweiter Klasse bestätigt. Ich rufe dazu auf, dies zu beenden". Er zitiert aus dem 21. Kapitel der Offenbarung, wo geschildert wird, wie Gott am Ende der Zeit alle Tränen abwischt und die Menschen in Frieden leben werden. Hiervon inspiriert schließt Gushee mit den Worten: "Wir sind heute zusammengekommen, um diese Einheit in Gottes Liebesbündnis einzufordern und sie in unseren Häusern, Kirchen und Schulen voranzubringen".
Mit seinem Vortrag hat Gushee bei den Zuhörer:innen große Zustimmung ausgelöst, so erklärt eine Teilnehmerin mit dem Namen Julia: "Ich war und bin begeistert davon, welche klaren Worte David Gushee in seinem Vortrag gefunden hat. Seine theologischen Ausführungen zum Thema 'Gottes Bund', der keine Menschen zweiter Klasse kennt, waren für mich ein Highlight". Der Ally Matthias Störmer sagt: "David Gushees klare ethische Argumente treffen genau an dem Punkt, wo bisher ein unüberbrückbarer Graben zu sein schien: Es geht gerade nicht um eine Auflösung oder Umdefinition christlicher Ehe bzw. Sexualethik, sondern um eine Inklusion der LGBTIQ-Community in diesen heilsamen und wertvollen Rahmen. Seine Hinweise auf die biblische Bundestheologie sind meiner Meinung nach der entscheidende Schlüssel dazu".
Der zweite Referent war Michael Diener. Diener ist Dekan in der Evangelischen Kirche der Pfalz, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und war Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes sowie viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz. Er begann seinen Vortrag mit einer Triggerwarnung: "Wappnet Euch, die ersten Minuten werden besonders hart und teils auch verletzend, denn ich zitiere meinen Präsesbericht, den ich 2011 bei der Gnadauer Mitgliederversammlung gehalten habe". Die Zitate, die er anschließend verliest, dürften in der Tat bei vielen im Saal schlimme Erinnerungen wachgerufen haben. Von der Ehe zwischen Mann und Frau, innerhalb der die einzige Form gottgewollter Sexualität möglich sei, dass alle anderen enthaltsam seien und ihnen Angebote der Korrektur gemacht werden sollen, ist da die Rede. Aussagen, die schließlich in den Sätzen münden: "Aufgrund unseres Verständnisses des Willens Gottes können wir zu praktizierter Homosexualität kein Ja finden. Sie ist Sünde und steht unter dem Gericht Gottes".
Nach dem Verlesen seines Berichtes erklärt Diener, er sei angesichts dieser Worte heute erschüttert über sich selbst und schäme sich. In gender– und sexualethischen Fragen habe er eine Entwicklung durchgemacht und sei vom Saulus zum Paulus geworden. Es folgt ein beeindruckendes persönliches Schuldbekenntnis, wie es bislang in einer solchen Deutlichkeit von kaum einer zentralen Führungsfigur der frommen deutschsprachigen Szene ausgesprochen wurde: "Wie Paulus verstehe ich mich auch als 'unzeitige Geburt' – ich habe etwa 50 Jahre meines Lebens als Christenmensch grundlegende hermeneutische und ethische Fragen falsch eingeschätzt – ich habe mich selbst dadurch beraubt an geistlicher Freiheit und Erkenntnis, aber auch andere Menschen dadurch diskriminiert, falsch beraten, ihnen so Schaden zugefügt. Und ich habe auch als Leiter dazu beigetragen, dass Vor-Urteile und Fehleinschätzungen gegenüber queeren Menschen autoritativ bestätigt, bestärkt, weitergegeben wurden. Das tut mir von Herzen leid und ich kann dafür die betroffenen Menschen wirklich nur um Vergebung bitten".
Einen schmerzhaften Änderungsprozess, so wie er ihn früher anderen empfohlen hat, habe er selbst durchlaufen, erklärt Diener. Er sei gebunden gewesen an kulturelle Prägungen und eine bestimmte Lesart der Bibel. Heute begreife er die Bibel immer noch als Heilige Schrift und Gottes Wort, "aber zugleich so, dass sie die in ihr steckende Kraft nicht im Buchstaben allein, sondern durch Gottes Geist und in die Zeit hinein entfaltet". Der Paulus in ihm habe sich über Jahrzehnte mühsam freikämpfen müssen, lässt er die Zuhörenden wissen. Auf diesem Weg seien Begegnungen mit Menschen, die eine andere Position vertreten haben und/oder die selbst zur diskriminierten Gruppe gehörten besonders wichtig gewesen. Aus dieser Erfahrung heraus appelliert er an die Menschen im Saal: "Es lohnt sich, nicht aufzugeben. Es lohnt sich, so sehr es die eigene Kraft und die eigene Geschichte zulässt, diesen Stachel, diesen Anstoß, diesen Perspektivwechsel an Menschen wie ich damals einer war weiterzugeben, weil es – hoffentlich – irgendwann dazu beiträgt, dass das […] heftigst verteidigte eigene Gebundenheitsmodell Risse bekommt und Raum entsteht für etwas Neues". Diener ist sich sicher, dass es heute in vielen evangelikalen Gemeinden Menschen wie ihn gibt. Diese seien "im Grunde nachdenklich und fragend, aber ohne Impuls von außen nicht in der Lage, sich gegen den in diesen abgeschlossenen Gruppen herrschenden Zeitgeist von vorgestern durchzusetzen und sich dem Wirken des lebendigen Geistes Gottes […] zu öffnen". Er beschreibt und warnt gleichzeitig davor wie innerhalb frommer Subkulturen "aus geistgewirkter Glaubensgewißheit […] gemeinschaftlich vermittelte Meinungssicherheit [wird]". Aus diesem Grund würden in diesen Gemeinschaften "Abweichungen auch sofort sanktioniert, denn sie untergraben die an die Stelle der Heilsgewißheit getretenen Gruppenüberzeugungen".
Diener stellt heraus, wie wichtig es sei, eigene gesellschaftliche Prägungen zu reflektieren, neue Erkenntnisse der Theologie, insbesondere der Hermeneutik, einzubeziehen und postuliert, dass dies nicht etwa zu einem Substanzverlust, sondern geradewegs zum Gegenteil, nämlich zum christlichen Substanzgewinn führe. In diesem Sinne bekennt er, dass er durch sein "Eingebundensein in ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Auslegungstradition, eine bestimmte kulturelle Lebensweise […] die Gnade, die Liebe Gottes, das Evangelium […] viel kleiner gemacht habe" als diese real seien. Zum Ende seines Vortrages ruft er dazu auf, gemeinsam zu glauben, zu hoffen, zu lieben und zu "arbeiten für christliche Gemeinden, in denen Menschen nach ihrem Coming Out ein herzliches Coming In erfahren egal, ob lesbisch, schwul, bi, trans, hetero oder anders queer".
Dieners Worte haben viele der Anwesenden sehr ergriffen. Sichtlich berührt sagt die Teilnehmerin Ulrike: "Besonders bewegt hat mich die Bitte um Vergebung von Micheal Diener. Nicht weil ich jemals den Wunsch hatte, dass er sich bei mir persönlich entschuldigt - sondern weil ich gespürt habe, wie heilsam diese Entschuldigung für mich ist. Bei mir hat sich noch nie einer der Menschen entschuldigt, die mich in all den Jahren bei der Suche nach einer Gemeinde-Heimat verletzt haben". Ähnliche Worte findet auch einer der Hauptinitiatoren des Coming-In, Benjamin Pölloth. Der zu Beginn verlesene Präsesbericht habe in seiner persönlichen Entwicklung eine Rolle gespielt, erklärt Pölloth, weshalb ihn Dieners "Entschuldigung und sein so ehrliches Bekenntnis, falsch gelegen zu haben, tief bewegt".
Das umfangreiche, sehr ausdifferenzierte und personell prominent besetzte Workshopangebot, gab den Teilnehmer:innen Gelegenheit zu inhaltlicher Vertiefung und zum Austausch. David Gushee und Thorsten Dietz machten einen Workshop mit dem Titel LGBTQ and church? Kirche und queere Menschen in den USA und hier. Matthias Störmer öffnete den Raum, um in Dialog zu treten über das Thema Als Gemeinde auf dem Weg zur Inklusion. Andere Gruppen widmeten sich genderneutraler Kinder- und Jugendarbeit, der Segnung "queerer Partnerschaften" und der Seelsorge für "queere Menschen". Mit Dorothea Zwölfer zu Transgeschlechtlichkeit und Carol Shepherd zu Bisexualität referierten zwei ausgewiesene Expertinnen auf ihrem jeweiligen Gebieten in weiteren Seminaren. Sebastian Rink hielt den Grundlagenworkshop: Muss man wissen! – Theologische Basics zur Homosexualität. Darüber hinaus gab es beispielsweise Angebote zur kritischen Einordnung und Aufarbeitung von "Konversionstherapien" in Deutschland, und Workshops mit dem Titel Ally werden? Ally sein! und Zweifel, Glaubenskrise & Dekonstruktion.
Das Coming-In war für die Anwesenden auch eine große geistliche Erfahrung. "Ich war tief berührt von den persönlichen Begegnungen, noch mehr aber von der spürbaren Gegenwart Gottes. Keiner, der dabei war, wird das leugnen", schildert Matthias Störmer. Ulrike formuliert: "Bewegend fand ich es, inmitten von 400 Menschen zu sitzen und zu wissen, dass sie alle für mich sind. Nicht weil sie selber betroffen sind, sondern weil sie sich eine andere Kirche wünschen". Besonders prägnant wurden diese Eindrücke während des Gottesdienstes mit gegenseitiger Salbung und den Lobpreiszeiten. Gemeinsam sangen die Anwesenden etwa den Worshipsong Beautiful Things. Das Lied erinnert an die Schöpferkraft Gottes. Es handelt davon, wie Gott Leben verändert, neue Wege aufzeigt, das Verlorene sucht und da, wo wir nur Staub sehen, Schmerz empfinden und kaum Hoffnung haben, etwas Wunderbares kreiert. Erfahrungen dieser Art erlebten viele der Teilnehmer:innen im Zusammenhang mit den Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Das Coming-In ist für sie ein Zeugnis dafür, wie Gott nach und im Unheil Umkehr, Versöhnung, Neuanfang und Aufbruch schafft. All das war an diesem Tag so greifbar nahe. Das gibt Grund zur Hoffnung, dass die Erlebnisse der Konferenz und die Initiative Coming-In substanzielle Veränderungen in der frommen Welt bewegen werden. Zu den Wirkungen von Coming- In sagt der Ally und Theologe Thorsten Dietz: "Mich hat der geistliche Charakter der Versammlung beeindruckt. Obwohl vielen der Anwesenden schon der Glaube an Christus abgesprochen wurde, lassen sie sich die Freude an Gott, am Lobpreis nicht nehmen. Die Gemeinschaftserfahrung war für viele tröstlich und befreiend. Sie wissen nun: wir sind viele, wir sind überall und wir lassen uns nicht mehr zum Schweigen bringen".
*Der Vortrag von David Gushee wurde in englischer Sprache gehalten, die Übersetzung wurde durch den Autoren dieses Blogbeitrags vorgenommen.