Nein, zu Hause bleiben war nichts für Sabine Grüter. Zwei Monate lang, als in der Werkstatt für Angepasste Arbeit (wfaa) in Düsseldorf "Betretungsverbot" herrschte, durfte sie die Drehbank für Aluminiumteile nicht bedienen. Sie durfte niemanden treffen und, trauriger noch, keinen Besuchern die weitläufigen Arbeitsräume zeigen. Das gefiel der 58-Jährigen mit den raspelkurzen Haaren gar nicht. Wegen ihrer Lernschwäche arbeitet sie in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung und ist froh, wieder täglich mit der S-Bahn von Mülheim an der Ruhr nach Düsseldorf zu fahren.
Etwa die Hälfte der 1.520 Beschäftigten arbeiten hier wieder, bauen Kinderfahrräder zusammen oder verpacken täglich bis zu 7.000 Bestecksets für die Uniklinik, sagt Geschäftsführer Thomas Schilder. Für alle wurden individuelle Lösungen der Organisation, Arbeitszeiten und Anfahrt gefunden. Dagegen haben viele Menschen, die in Wohnheimen oder anderen Einrichtungen leben, ihre Tätigkeit noch nicht wieder aufgenommen, oft gegen ihren Wunsch. Die Einrichtungen wägen das Risiko der Ansteckung im Einzelfall individuell ab. "Höchste Priorität hat, dass kein Virus in die Wohngruppen gelangt", sagt ein Betreuer.
Bevor die Werkstatt für Angepasste Arbeit Mitte Mai wieder öffnete, nahm das Team Kontakt zu allen Beschäftigten auf. "Wir haben alle 1.520 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Eltern oder Betreuer angerufen, um zu klären, wie, wann und ob sie an ihren Arbeitsplatz in einem unserer zehn Standorte in Düsseldorf kommen", sagt der Geschäftsführer. Für Sabine Grüter kein Problem. Sie konnte fahren wie all die Jahre zuvor, auch mit Mundschutz. "Und ich bin immer pünktlich. Zu spät kommen, das gibt es bei mir nicht", sagt sie.
Während des Betretungsverbots für die behinderten Mitarbeiter musste das Team der Werkstatt - Handwerkern vom Metallbetrieb bis zur Gärtnerei sowie Betreuerinnen - selbst die Aufträge erledigen, auf die Kunden sich verlassen: etwa für die Uniklinik, die weiterhin verpacktes Besteck für Frühstück, Mittag- und Abendessen ihrer Patienten brauchte.
Arbeiten, die auch an anderen Orten hygienisch einwandfrei gemacht werden konnten, brachten Werkstatt-Mitarbeiter in die Wohnheime. Wohnzimmertische wurden zu Arbeitsplatten. Das machten auch andere Werkstätten in Nordrhein-Westfalen: "Unsere Gruppen waren auf diese Weise sinnvoll beschäftigt, ihre Tage hatten Struktur und sie waren zusammen", erzählt ein Betreuer aus Witten.
Ein Engpass ist der Transport
Manche Beschäftigte zogen, zum Teil nach Jahren, zu ihren Eltern zurück. "Das war für die Familien anstrengend," sagt wfaa-Geschäftsführer Schilder. Deshalb seien einige seiner Mitarbeiter stundenweise zur Entlastung in diese Familien gekommen. "Das geschieht auch jetzt noch", sagt Schilder.
Obwohl die Werkstätten seit Mitte Mai wieder in Betrieb sind, arbeiten längst nicht alle, die das möchten. Ein Engpass ist etwa der Transport: Aus Wohnheimen werden Menschen mit Behinderung in Minibussen in die Werkstätten gefahren. Wenn auf neun Plätzen neun Personen sitzen, die alle einen Mundschutz tragen, sei das möglich, sagt Thomas Schilder. Das NRW-Gesundheitsministerium habe das auch ausdrücklich gestattet, selbst bei geringem Abstand zwischen den Personen.
Manche Behinderungen lassen aber keinen Mundschutz zu. Sei es, weil die Haut zu empfindlich ist, sei es, weil Menschen mit spastischen Bewegungen ihn aus dem Gesicht zögen. "Auch da sind Lösungen für den Einzelfall notwendig", erklärt Schilder. Zwei oder drei Leute könnten in einem Minibus auch ohne Mundschutz gefahren werden.
Nicht überall kümmern sich Wohnheime um diese Möglichkeit. "Mein 45-jähriger Sohn hat seit Mitte März, mit Ausnahme einer Woche bei uns, seine Gruppe mit acht Mitbewohnern nur ein einziges Mal in Begleitung eines Betreuers verlassen", sagt der Vater und gesetzliche Betreuer des Mannes aus Wuppertal. Der Sohn sei geistig soweit eingeschränkt, dass er nicht alleine zu seiner Werkstatt fahren könne.
Weil es keine allgemeinen, politisch verordneten Regeln geben kann, bleibt allen Beteiligten weiterhin nur die Suche nach Lösungen für jeden Einzelfall. Schilder erwartet, dass das einstweilen so bleiben wird: "So lange es keinen Impfstoff gibt, werden wir in der Werkstatt nicht mit 1.500 Personen an allen Plätzen arbeiten können."