Herr Hirsch-Hüffell, vor der Corona-Krise hörte man schon gelegentlich, dass der Gottesdienst in einer Krise steckt. Aktuell scheint es, dass öffentlich über Gottesdienst gestritten wird, wie lange nicht. Doch keine Krise?
Thomas Hirsch-Hüffell: Das muss man genauer einschränken. Vor Corona war der Sonntagsgottesdienst in der Krise. Im bildungsbürgerlichen Umfeld in den Vorstädten funktioniert der Gottesdienst noch. Anders sieht das im ländlichen Raum aus, besonders in Ostdeutschland.
Wo funktionieren Gottesdienste und was hat Corona eventuell damit zu tun?
Hirsch-Hüffell: Im sogenannten zweiten Programm, im Wildwuchs von Gottesdienstkultur in Deutschland, gibt es Innovation im fünfstelligen Bereich. Menschen machen sich auf den Weg - mit und ohne Pfarrer - und erfinden Gottesdienste, die ihnen "schmecken". Gottesdienst am Gartenzaun, in der U-Bahn - da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Der Sonntags-Gottesdienst in seiner herkömmlichen Form mit der sehr abstrakten Liturgie im Gegensatz zu diesem Boom an neuen Formen - das ist durch Corona sichtbarer geworden. Insofern Krise für einen bestimmten Typus an Gottesdienst.
Ist die Form des Gottesdienstes eine Generationenfrage?
Hirsch-Hüffell: Ja, die Generation der im Krieg Geborenen liebt die Klarheit der Form. Die Form einhalten war ein Wert an sich. Der Kirchgang, das war eine Institution. Da ging man hin. Nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern aus Gewohnheit. Das ist mit den 1968ern grundsätzlich gekippt. Jetzt fragt man eher, welcher Inhalt spricht mich an, ist das was für mich? Eine Frage, die sich mein Opa nie gestellt hat. Insofern also schon ein Generationenclash.
In der EKBO gibt es Ideen zu Dritten Orten, in der EKM nennt man diese Gemeinde-Experimente Erprobungsräume. Sind das die Orte, an denen zukunftsweisender Gottesdienst stattfindet beziehungsweise stattfinden wird?
Hirsch-Hüffell: In den Erprobungsräumen setzt man die kirchliche Verfassung außer Kraft, die zum Beispiel vorgibt, dass an jedem Sonntag in jeder Kirche ein Gottesdienst stattzufinden hat. Ein Erprobungsraum bietet die Möglichkeit, fünf bis sechs Gemeinden zusammenzufassen und ihnen Freiheit bei der Gestaltung des Gemeindelebens zu gewähren, das betrifft Gottesdienste, Unterrichtsformen und mehr.
Was halten Sie von solchen Konzepten?
Hirsch-Hüffell: Das ist längst überfällig! Dieses starre System der "Versorgung" macht allein keinen Sinn mehr. Das wird es an manchen Orten weiter geben, an anderen funktioniert es so nicht mehr.
Was ist vielleicht problematisch an regulären Gottesdiensten?
Hirsch-Hüffell: Ich habe 20 Jahr lang reguläre Gottesdienste unterrichtet, den Vikaren beigebracht. Er trägt viele chiffrierte Weisheiten in sich, lauter Anspielungen und Stichworte - aber immer für Eingeweihte. Wer so einen Gottesdienst besucht, ist gewissermaßen ein Turniertänzer, der die Wendungen und Drehungen kennt und versteht. Das ist eben nur nichts für Anfänger, weil diese Form einfach zu viel voraussetzt.
Was also könnte man den Menschen anbieten, die man jetzt noch nicht erreicht?
Hirsch-Hüffell: Um noch einmal das Bild aufzugreifen: Ich würde immer unterscheiden zwischen Leuten, die erfahren sind, also Turniertänzern, und denjenigen, die am Tanzen überhaupt erst einmal schnuppern wollen. Für die bieten sich diese neue Formen an, die sich aktuell entwickeln: Gottesdienst im Tattoostudio, Andacht im Fahrstuhl.
Warum funktionieren die besser?
Hirsch-Hüffell: Weil es Formen sind, die auf die Schnelle, kurz, knackig, witzig, Menschen einen kleinen geistlichen Appetizer bietet. Diese Menschen gehen nicht in die Kirche und wollen vielleicht auch keine Christen werden, aber sie sind bereit fünf Minuten ihrer Zeit für einen gut gemachten Impuls zu opfern.
Seit dem Beginn der Corona-Krise werden viele geistliche Angebote virtuell angeboten. Wird das Bestand haben?
Hirsch-Hüffell: Es gibt eine wissenschaftliche Untersuchung in der Nordkirche: Wer sucht nach christlicher Spiritualität und wo? Man hat festgestellt, dass 99 Prozent der Menschen, die nach christlicher Spiritualität suchen, nicht bei der Kirche suchen. Lediglich ein Prozent vermutet christliche Spiritualität bei der Kirche. Gesucht wird sie bei Heiler*innen oder in Meditationsgruppen, und die Menschen werden im esoterischen Segment auch fündig. Da ist ein ziemlich großer Bedarf nach spiritueller Nahrung, und der ist im Augenblick im Netz unterwegs. Die Ortsgemeinde mit dem Häkelkreis profitiert in der Regel nicht von dieser Suche. Genau darauf haben die die Jüngeren schon vor Jahren hingewiesen. 'Wir müssen das ernst nehmen, sonst werden wir schlichtweg nicht wahrgenommen.' Die Traditionalisten haben das immer belächelt und werden nun eines Besseren belehrt. Das Virtuelle ist eine ernst zu nehmende Wirklichkeit, das merkt nun endlich auch die Kirche und fängt an es zu nutzen.
Wird die Gemeinde der Zukunft auch anders aussehen?
Hirsch-Hüffell: In den ländlichen Gebieten wird es die personale Kirche noch weiter geben. Ausgedünnter aber da, denn so eine "kohlenstoffliche" Ortsgemeinde ist auch ein Chance. Die Globalisierung macht uns nicht satt. Was uns satt macht, sind regionale Beziehungen, die verlässlich sind. Dass das funktioniert und auch nötig ist, merken wir ja besonders in der Corona-Krise, wo Kirchen ein soziales Netz und praktische Alltagshilfe anbieten. Daneben wird es die situative Gemeinde geben, Netzgemeinden oder Gemeinden um bestimmte Personen herum. Diese Vielfalt wird wachsen.
Wird die Gemeinde selbst eine andere Rolle spielen bei der Gestaltung von Gottesdienst und Gemeindeleben?
Hirsch-Hüffell: Wenn sie die Rolle ernst nimmt, Autor*in der eigenen Spiritualität zu sein, dann ja. Die Chance dafür ist viel größer als noch vor 30 Jahren.
Werden sich eventuell auch Hierarchien in der EKD auflösen?
Hirsch-Hüffell: Bei den Protestanten sind Hierarchien vor allem durch das Geld bestimmt. Wird das irgendwann knapp, werden innerhalb dieses Prozesses auch bestimmte Hierarchien geschliffen.