In Ihrem Buch "Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand" stellen Sie die Frage, ob Bonhoeffer ein "moderner Heiliger" ist. Ist er das für Sie?
Christiane Tietz: Ich finde den Begriff schwierig, denn aus reformatorischer Sicht würde man sagen: Alle Menschen sind Heilige, weil alle nur durch Gott gerechtfertigt sind. Die Reformatoren haben sich ja dagegen gewandt, dass einige besonders hervorgehoben werden und andere nicht. Ein Problem am Heiligen-Begriff ist auch, dass man immer fragt: Was würde Bonhoeffer heute dazu sagen? Oder: Wie würde Bonhoeffer das machen? Und man denkt: Bonhoeffer weiß alles. Man könnte vielleicht sagen: Er ist ein Heiliger als Glaubensvorbild. Dann aber auch im Ringen um den Glauben, im Kampf mit und gegen Gott.
Bonhoeffer hat sich immer wieder mit neuen Themen beschäftigt. Gibt es trotzdem einen Grundzug seiner Theologie, der sich vom Anfang bis zum Ende durchzieht?
Tietz: Das ist ganz sicher die starke Orientierung an Jesus Christus. Er hat immer wieder nachgedacht über die Frage: Wer ist Jesus Christus für uns heute? Dazu gehört auch, dass er eine Theologie vertritt, die sehr an der Welt orientiert ist. Jesus Christus ist für ihn der Ort, an dem Gott in die Welt kommt. Deshalb ist für ihn das Nachdenken über Jesus Christus immer auch eines über die Welt, in die Jesus Christus gekommen ist.
Außerdem versucht er, Glauben, Denken und Leben zusammenzuhalten. Er setzt theologisch immer wieder neu an und fragt: Wie kann das, was ich erfahre, und die Welt, in der ich lebe, zusammenstimmen mit dem, was ich denke und glaube? Er war als Theologe kein Schreibtischtäter, sondern er hat immer wieder überprüft, ob das, was er sich theologisch klargemacht hat oder was für ihn im Glauben wichtig war, auch in der Wirklichkeit getragen hat.
Was ist für Sie persönlich der wichtigste Gedanke oder die wichtigste Handlung Bonhoeffers?
Tietz: Das ändert sich immer wieder in meinem Leben. In den letzten Jahren ist es eine Zeile aus einem Gedicht, das Bonhoeffer im Gefängnis geschrieben hat, nämlich der Schluss des Gedichtes "Wer bin ich?" Darin erzählt er, wie er, wenn er aus der Zelle heraustritt, nach außen offensichtlich ganz stark und kraftvoll wirkt, wie er innerlich aber gleichzeitig ängstlich und unruhig ist und müde. Er fragt sich dann: Wer bin ich denn eigentlich? Und das Gedicht schließt mit der wunderschönen Zeile: "Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!" Bonhoeffer sagt nicht: Aber Du, Gott, sagst mir, wer ich bin, sondern einfach nur: "Du kennst mich." Das finde ich tröstend und haltend!
Wir führen dieses Interview mitten in der Corona-Krise 2020. Ich denke an Bonhoeffers Satz: "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist." Sie auch?
Tietz: Für mich ist in der Corona-Krise zunächst ein anderer Satz Bonhoeffers wichtig. Er hat ihn zum Jahreswechsel 1942/43 für seine Mitverschworenen geschrieben: "Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein." Ich finde den Gedanken ganz großartig! Denn er zeigt weg von der eigenen persönlichen Befindlichkeit, von der Angst oder dem Gefühl, ich kann diese Krise nicht durchstehen. Bonhoeffer sagt: Doch, darauf vertraue ich: Gott gibt mir so viel Widerstandskraft, wie ich brauchen werde, das wird schon gehen. Von jemandem, der so krisenerfahren ist wie Bonhoeffer, finde ich das einen sehr starken Satz.
"Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist" – dieses Für-andere-da-Sein, das soll die Kirche natürlich im Moment versuchen. So wie ich das wahrnehme, geschieht das auch. Zum Beispiel da, wo die Kirche Nachbarschaftshilfe organisiert oder wo sie kreative Formen entwickelt, um Gottesdienstteilnahme zu ermöglichen. Ich habe ein Video von einem Pfarrer gesehen, der allein mit dem Organisten Gottesdienst gehalten hat. In dem Video hat er viele Bilder vom Kirchenraum eingefangen. Man bekam das Gefühl, selbst in der Kirche zu sein. Das fand ich sehr fürsorglich für die Gemeinde. Oder auch in den Seelsorgegesprächen, die die Ängste der Menschen ernst nehmen.
Ein Problem in der Corona-Krise ist natürlich, dass man sich aus Angst nur noch um sich selbst dreht. Diese Verengung beobachte ich auch bei mir. Da ist natürlich die Aufforderung, für andere da zu sein, eine Herausforderung. Was ich bei Bonhoeffer gut finde, ist, dass er sagt: Das können wir deshalb, weil wir Gott für uns da sein lassen. Ich muss jetzt nicht alle ethischen Muskeln anspannen, sondern ich darf mir erst mal die Fürsorge Gottes für mich gefallen lassen, und die hilft mir, für andere offen zu werden.
Bonhoeffer steht für eine Verantwortungsethik im Gegensatz etwa zu einer Prinzipienethik. Fallen Ihnen ethische Fragen unserer Zeit ein, für die der verantwortungsethische Ansatz gut taugen kann?
Tietz: Ich würde sagen: Die Corona-Krise ganz sicher. Jedes Mal, wenn man aus dem Haus geht, ist man verantwortungsethisch gefordert, und es reicht dann nicht, nur zu sagen: Das Prinzip ist, mich so und so zu verhalten, sondern ich muss konkret durchbuchstabieren, wie ich Verantwortung für andere umsetzen kann.
Abgesehen von der gegenwärtigen Krise würde ich sagen, in der Friedensethik ist ein verantwortungsethischer Ansatz sinnvoll. Denken Sie an das Konzept der EKD zum gerechten Frieden, wo man ja auch nicht prinzipiell sagt: In keinem Fall darf Gewalt angewandt werden, sondern es kommt darauf an, dass in den betroffenen Gebieten Gerechtigkeit praktiziert wird. Was das heißt, ist eine verantwortungsethische Klärung.
Und schließlich würde ich sagen: Im Umgang mit Bonhoeffer selbst ist ein verantwortungsethisches Konzept hilfreich. Es gibt ja viele, die sich auf Bonhoeffer berufen, und dann läuft so etwas mit wie: Wenn Bonhoeffer das auch gemacht hätte, was ich jetzt mache, dann brauche ich es eigentlich nicht weiter zu legitimieren. Ich würde sagen, Bonhoeffers verantwortungsethisches Konzept steht quer dazu. So darf man mit Bonhoeffer ganz sicher nicht umgehen.
Bonhoeffer hat früh die Zeichen seiner Zeit erkannt und bei Hitlers Machtergreifung gewarnt, aus einem "Führer" könne ein "Verführer" werden. Was können wir von Bonhoeffer lernen, wenn wir heute wieder die Demokratie von rechts bedroht sehen?
Tietz: Zunächst Zivilcourage. Es war für Bonhoeffer ein wichtiger Wert, dass man nicht einfach schweigt zu Unrecht oder zu unmöglichen Äußerungen, sondern sich kritisch positioniert.
Den Text zu "Führer" und "Verführer" hat Bonhoeffer 1933 geschrieben. Darin schreibt er, die Gefahr des Verführers liege darin, dass man sich Verantwortung abnehmen lassen möchte. Man delegiert sie an jemanden, der schon alles richten wird. Bonhoeffer schreibt, dass Menschen das immer dann machen, wenn sie selbst das Gefühl haben, dem Anspruch, der an sie gerichtet ist, nicht gerecht zu werden. Sie sind dann froh, das delegieren zu können, weil sie sich selbst zu schwach, zu unmündig, zu unreif fühlen. Da wäre jetzt von Bonhoeffer her aus meiner Sicht jeder und jede Einzelne aufzufordern, nicht einfach Leuten hinterherzulaufen, sondern sich ein eigenes Urteil zu bilden.
"Bonhoeffer war ja ein ökumenischer Denker, und Ökumene hieß zu der damaligen Zeit vor allem Ökumene zwischen Menschen in verschiedenen Ländern"
Und noch ein Punkt: Bonhoeffer war ja ein ökumenischer Denker, und Ökumene hieß zu der damaligen Zeit vor allem Ökumene zwischen Menschen in verschiedenen Ländern. Ihm war seit seinem Amerika-Aufenthalt 1930/31 sehr bewusst, dass es überall Christen gibt und dass man sich mit der christlichen Botschaft nicht nur auf das eigene Land beziehen darf. Ein nationalistisches Denken auf Kosten anderer ist mit Bonhoeffer überhaupt nicht zu machen.
Bonhoeffer wurde und wird sicher vereinnahmt für Ideen, die nicht seine waren. Auch im rechten politischen Spektrum?
Tietz: Den Eindruck habe ich. In Amerika hat ja Eric Metaxas‘ Biografie zu Bonhoeffer große Furore gemacht. Metaxas hat die These vertreten, dass Bonhoeffer bei seinem zweiten USA-Aufenthalt 1939 die christlichen Fundamentalisten in den USA parallelisiert habe mit der Bekennenden Kirche. Also dass der Kampf der Fundamentalisten gegen das liberale Christentum – insbesondere wie es am Union Theological Seminary und in der Riverside Church in New York vertreten wurde – gleichzusetzen wäre mit dem, wie Bonhoeffer gegen den Nationalsozialismus in Deutschland gekämpft habe, und Bonhoeffer selbst habe das so empfunden. Dafür gibt es aber überhaupt keinen Anhaltspunkt in Bonhoeffers Texten. Außerdem vergleicht man hier Dinge, die man nicht vergleichen kann. Der Kampf gegen die Nazis, gegen ein Unrechtssystem, war etwas ganz anderes als der heutige Kampf gegen den vermeintlich liberalen Zeitgeist in einer pluralistischen, den Menschenrechten verpflichteten Demokratie. Das wäre auch gegen eine Vereinnahmung Bonhoeffers im rechten politischen Spektrum in Deutschland herauszustellen.
Dort, wo man, wie manchmal in den USA, meint, mit Bonhoeffer Gewaltanwendung legitimieren zu können, ist daran zu erinnern, dass Bonhoeffer der Meinung war, Gewalt auf eigene Faust sei grundsätzlich gar nicht erlaubt. Nur in der "außerordentlichen Situation" sei das zur Not ein Weg, aber die "außerordentliche Situation" ist eine, in der für Menschen das zum Leben Notwendigste nicht mehr da ist, in der der Staat nicht mehr Recht und Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden sicherstellt.
Darüber hinaus meinte Bonhoeffer, wenn man in dieser "außerordentlichen Situation" zu der Überzeugung kommt, man muss sich an einem Attentat gegen Hitler beteiligen, dann lädt man Schuld auf sich. Bonhoeffer ist ganz fest davon überzeugt, dass dieses Attentat nicht legitim ist. Sondern man wird schuldig, weil man gegen ein Gebot Gottes verstößt. Diese Nuance vermisse ich völlig bei der ganzen Debatte.
Bonhoeffer sagt selbst, "dass eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist". Sie finden es schwierig zu fragen: Was würde Bonhoeffer heute dazu sagen? Ich frage trotzdem: Was können wir heute von ihm lernen?
Tietz: Mich hat sehr überzeugt, was Wolfgang Huber in seinem neuen Buch dazu schreibt: Er sagt, Bonhoeffer könne ein Ansporn sein, sich wichtigen Fragen zu stellen und nach eigenen Antworten zu suchen, die man im eigenen Handeln umsetzt. Das finde ich genau richtig. Man kann bei Bonhoeffer lernen, dass man die Situation analysieren und sich vor Gott und dem Nächsten verantworten muss. Das ist in Bonhoeffers eigener Konzeption auch so. Er sagt: Wenn die Kirche sich zu einer aktuellen ethischen Frage äußert, dann versucht sie, das Gebot heute in der konkreten Situation zu formulieren und nicht irgendeine pauschale ethische Regel, die man wie ein Kochrezept einfach anwenden könnte.
An einer Stelle formuliert Bonhoeffer: "Was ‚immer‘ wahr ist, ist gerade ‚heute‘ nicht wahr; Gott ist uns ‚immer‘ gerade ‚heute‘ Gott." Das heißt: Gott hat ein konkretes Gebot für heute und nicht irgendein pauschales Prinzip. Dafür ist die Welt viel zu komplex. Der Gedanke dahinter ist bei Bonhoeffer natürlich ein theologischer, nämlich: Wenn es Regeln gäbe, nach denen man immer leben könnte, dann bräuchte man Gott nicht mehr – nicht mehr als Gegenüber, mit dem man um den richtigen Weg ringt, und auch nicht mehr als den, der mir vergibt, wenn ich mich in diesem Ringen um den richtigen Weg geirrt habe.