Dieser Beitrag entstand vor der Corona-Krise:
Als die Jünger vor der unmöglichen Aufgabe stehen, spontan 5.000 Menschen zu verpflegen, sagt Jesus zu ihnen: "Wie viele Brote habt ihr? Geht hin und seht nach!" (Luther-Übersetzung). Die Jünger finden fünf Brote und zwei Fische. Jesus lässt die Jünger austeilen, was da ist – und das Wunder geschieht: Beim riesigen Picknick auf einer großen Wiese werden alle Menschen satt (Markus 6,30-44).
Das ÖKT-Leitwort "schaut hin" steht wörtlich so nicht im Bibeltext, und darauf wird das ÖKT-Team regelmäßig angesprochen. Zwei Verben sind es im Griechischen, beide in der Befehlsform: "hypagete, idete": "geht hin, seht nach." Die Formulierung "schaut hin" sei "eine Verdichtung dieser Kombination aus ‚geht hin‘ und ‚seht nach‘", erklärt Marc Frings, der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). "Wir nehmen ja im Grunde eine Interpretation dieser doppelten Tat vor: sich bewegen, Ausschau halten und dann daraus was machen." Nur eines der beiden Verben wäre nicht korrekt genug gewesen, meint Frings. "Ich glaube, es wird durch dieses ‚schaut hin‘ besser."
Lange und sehr intensiv hat das Präsidium des 3. Ökumenischen Kirchentages, das aus 45 Menschen verschiedener christlicher Konfessionen besteht, über die Auswahl und die Formulierung des Leitwortes nachgedacht. "Wichtig ist auch, dass man es leicht versteht, auch im Vorübergehen, dass es biblisch fundiert ist und dass es auch zur Stadt Frankfurt passt", erklärt Julia Helmke, die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
Mehr als 90 Vorschläge geprüft
Über 90 Vorschläge von Fachleuten und Laien wurden mit Unterstützung der evangelischen Alttestamentlerin Christl Maier und des katholischen Neutestamentlers Thomas Söding geprüft und sortiert, so dass dem Präsidium des ÖKT drei Bibelstellen vorlagen. "Es ging darum, was uns berührt und was wir uns als Überschrift für die nächsten Jahre selber geben wollen", erläutert Marc Frings, der noch vor Beginn seiner offiziellen Amtszeit als Generalsekretär des ZdK an der entscheidenden Präsidiumssitzung teilnehmen durfte. Die intensive Diskussion war für ihn ein "ehrliches, inhaltliches Ringen" und "eine sehr authentische Erfahrung".
Während der Sitzung wurde klar: Keine der drei vorgeschlagenen Bibelstellen würde hundertprozentig zum Ort und zur Zeit des 3. Ökumenischen Kirchentages passen. "Wie das manchmal so ist", erzählt Julia Helmke, "hat sich im nächtlichen Diskutieren ein weiterer Leitwortvorschlag ergeben, und dieser vierte ist dann auch mit Mehrheit gewählt worden: 'schaut hin‘." Nein, die ursprünglichen drei Vorschläge verraten die beiden nicht. "Das ist wie beim Konklave", sagt Frings mit einem Lachen.
Mehrere Blickrichtungen
Wer soll also wo hinschauen und warum? Das Leitwort eröffnet mehrere Blickrichtungen. Zunächst ist Julia Helmke wichtig: "Als Deutscher Evangelischer Kirchentag und als Zentralkomitee der Katholiken verpflichten wir uns selbst dazu, nicht wegzusehen, sondern genau hinzusehen. Wir sehen in der Kirche und in der Gesellschaft, was brach liegt, was weh tut, wo es notwendig ist, dass Menschen auch wirklich hinschauen." Umgekehrt gelte für die Menschen, die in Frankfurt leben und arbeiten: "Schaut auch auf uns! Was könnt ihr von uns erwarten, was wollen wir miteinander in dieser Zeit für diese Gesellschaft tun?"
Hinschauen und Sehen sind Leitbegriffe, die sich durch alle Gottesdienste und Bibelarbeiten des ÖKT ziehen: Von Gottes Blick auf die "verderbte" Erde (Genesis 6,12-22) bis hin zum Blick der Jünger in die Wolken bei Christi Himmelfahrt (Apostelgeschichte 1,1-12) werden sich die Teilnehmenden mit biblischen Aspekten des Sehens beschäftigen.
Gleich im Eröffnungsgottesdienst geht es um die wundersame Brotvermehrung (Markus 6,35-44), aus der das Leitwort stammt. In der Geschichte werden die Ressourcen Brot und Fisch geteilt. "Welche Ressourcen sind uns von der Schöpfung anvertraut? Wie gehen wir mit ihnen um? Und welche Ressourcen sind begrenzt?", das sind Julia Helmkes Fragen, wenn sie an Frankfurt 2021 denkt. Stichworte wie Klimawandel und Energieressourcen, Arm und Reich, Macht und Kapital sowie ethisches Investment kommen der Generalsekretärin in den Sinn.
Von Ressourcen zur Paulskirche
Marc Frings denkt als Politikwissenschaftler beim Stichwort "Ressourcen" an die Paulskirche, die als Symbol für Demokratie, Freiheit und Recht mitten in Frankfurt steht: "Wie können wir eigentlich demokratische und rechtstaatliche Errungenschaften sichern, um überhaupt wieder da verortet sein zu können, wo wir eigentlich schon einmal waren", fragt sich der Generalsekretär. "Es gehört, glaube ich, dazu, den Rechtsstaat zu verteidigen und auch dort hinzuschauen, wo dieser Rechtsstaat global, auf völkerrechtlicher Ebene, massiv bedroht wird."
Doch es soll auf keinen Fall nur darum gehen, zu schauen, welche Ressourcen im Schwinden begriffen sind. "Aus der Bibelstelle kann man ganz klar die Aufforderung zum Perspektivwechsel ableiten", sagt Marc Frings. Die Jünger sehen nur ihre fünf Brote und zwei Fische, "aber dann werden sie aufgefordert, die Inventur neu zu lesen und nochmal neu zu bewerten: Was ist wirklich möglich? Und dann kommt eine neue Handlungsanweisung". Die Jünger sollen handeln, aktiv werden, sollen das große Picknick organisieren und die Ressourcen, die sie haben, verteilen.
Darin sieht Frings "einen starken Vertrauensbeweis", denn "Jesus sagt ja nicht: 'Okay, jetzt geht mal zur Seite, ich mach selber‘, sondern er hat ein großes Vertrauen in die Talente und Begabungen dieser Jünger und sagt: 'Gebt ihr ihnen zu essen.‘" Deswegen geht es für den ZdK-Generalsekretär bei diesem ÖKT auch darum, "mit den bereits vorhandenen Ressourcen inklusive der Begabungen, die jeder mitbringt, konstruktiv mit dem umzugehen, was wir gerade als Krisenerscheinungen erleben und beobachten."
Gegen einen Optimierungswahn
Nicht in Resignation oder Verzweiflung verfallen, das ist auch Julia Helmkes Credo, sondern "mit Gottes Geist dagegen ansingen und andiskutieren". Die Geschichte von der wundersamen Brotvermehrung spricht für die Theologin auch "gegen einen Optimierungs- und Selbsterlösungswahn nach dem Motto 'Wir müssen, aber können auch alles selbst machen‘." Sie ist überzeugt: "Es ist Gott, der uns nochmal ganz andere Ressourcen schenkt und zur Verfügung stellt." So sei der Ökumenische Kirchentag für sie "ein großes Glaubensfest, wo viele kommen, um sich inspirieren zu lassen, sich zu vergewissern und neu zu orientieren."
Auch, um gemeinsam das Abendmahl zu feiern? Es besteht eine gewisse Erwartung an den 3. Ökumenischen Kirchentag, evangelische und katholische Christ*innen endlich am Tisch des Herrn zu vereinen. Dass das Leitwort aus einer Brot-Geschichte entnommen wurde, lenkt den Blick noch deutlicher in Richtung Abendmahl. "Ich finde, dass wir uns in keiner Weise mit dem externen Druck, der darauf lastet, gemein machen sollten", sagt Marc Frings, aber er meint auch: "Wir sind gerade in einem ganz spannenden Prozess, der auch irgendwo hinführen wird, aber das ist ja genau die Dynamik, auf die wir uns ergebnisoffen einlassen. Ich finde, das hat auch immer viel mit Mut zu tun, dass wir uns auf etwas einlassen, worauf wir jetzt die Antwort einfach noch nicht kennen."
"Was können wir miteinander teilen?"
Julia Helmke erklärt, das Präsidium habe "nicht bewusst nach einer Brotgeschichte geschaut". Wichtig ist ihr mit Blick auf Markus 6,30-44, "dass es da ja nicht um das letzte Abendmahl geht, sondern um eine Mahlgemeinschaft". Deswegen geht es für sie eher um Fragen wie: "Was können wir miteinander teilen? Wie können wir die Gaben, die wir haben, uns gegenseitig schenken? Das Moment der Gnade, das im miteinander Essen und im miteinander Teilen geschieht, ist ein Kairos, den man nicht vorherbestimmen kann." Der ÖKT biete viele Möglichkeiten, "dieses zeichenhafte Handeln erfahrbar zu machen", sagt Helmke. "Gott stärkt uns. Gott nährt uns. Und somit können auch wir uns gegenseitig stärken und nähren."
Vielleicht, so deutet die Generalsekretärin an, lasse man einfach geschehen, was geschieht. "Wir werden so weit gehen, wie es uns möglich ist", sagt Julia Helmke. "Man kann Rahmenbedingungen schaffen, aber das, was geschieht, ist dann auch nicht menschengemacht."