Lange Zeit gab es in Württemberg für alle evangelischen Theologiestudenten nur eine Adresse: das Evangelische Stift in Tübingen, in dem bereits Größen wie der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1841) und der Dichter Eduard Mörike (1804-1875) gewohnt hatten. Bis 1968 die Studentenunruhen kamen, die auch das traditionsreiche Haus erfassten.
So wurde damals das Tischgebet vor dem gemeinsamen Mittagessen im Speisesaal des Stifts abgeschafft mit der Begründung, es sei zu formal und ritualisiert, erinnert sich Rolf Hille, der in dieser Zeit im Stift wohnte und von 1995 bis 2009 Rektor des Albrecht-Bengel-Hauses (ABH) war. Eine Gruppe Stiftler sei durchs Land gezogen, um gegen die bürgerliche Ehe als überholtes Modell zu demonstrieren. Diese und andere Entwicklungen in Theologie und Gesellschaft besorgten konservative Teile der Landeskirche, so Hille.
Die ersten elf Studenten
Laut Kirchenhistoriker und Pfarrer Jörg Breitschwerdt sahen viele theologisch konservative Christen in Württemberg die Entwicklungen in Theologie und Kirche schon seit längerem kritisch, weil sie grundlegende Überzeugungen des christlichen Glaubens durch die "moderne Theologie" infrage gestellt sahen. Nicht Grund, aber Anlass, neben dem Stift ein weiteres Wohnheim für württembergische Theologiestudenten zu gründen, waren die sich zuspitzenden studentischen Proteste. "Viele kirchlich Engagierte waren über die provokativen Aktionen mancher Theologiestudenten schockiert und wünschten sich eine andere Prägung für ihre zukünftigen Pfarrer und Lehrer", sagt Breitschwerdt, der zum 50. Jubiläum in einem Buch die Entstehungsgeschichte des Albrecht-Bengel-Hauses beschrieben hat.
Am 27. Dezember 1969 wurde der Verein "Albrecht-Bengel-Haus" von Vertretern der württembergischen Landessynode, der pietistischen Ludwig-Hofacker-Vereinigung und konservativ-lutherischen Kräften aus der evangelischen Sammlung in Württemberg gegründet. Der Verein benannte sich nach dem pietistischen Theologen Johann Albrecht Bengel (1687-1752). Viele Spenden aus pietistischen Kreisen sorgten dafür, dass ein Haus in der Tübinger Gartenstraße gekauft werden konnte, in das bereits ein dreiviertel Jahr nach Vereinsgründung, im Wintersemester 1970, die ersten elf Studenten einzogen.
Ein Affront gegen das Evangelische Stift?
Der erste Studienleiter war der ehemalige Stiftsrepetent und Dekan Walter Tlach (1913-2004), erster, damals noch ehrenamtlicher Rektor, der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus. Bereits 1973 kam Gerhard Maier als Studienleiter ins Haus, der später Rektor des ABH und württembergischer Landesbischof (2001-2005) wurde.
Bald wuchsen die Studentenzahlen des ABH, so dass im Herbst 1977 in Tübingen-Derendingen ein Neubau eingeweiht werden konnte. Dieser wuchs im Laufe der Zeit auf vier "Türme" an, in denen derzeit 102 Studenten wohnen. 21 weitere Studenten nehmen als "Stadtbengel" am Programm des Hauses und der Studienbegleitung teil. Insgesamt 68 von ihnen studieren Theologie mit dem Berufswunsch Pfarrer, 28 evangelische Theologie auf Lehramt, die anderen sind Doktoranden oder Nicht-Theologen.
"Auch wenn vom Verein beteuert wurde, mit dem Bengelhaus kein 'Gegenstift' gründen zu wollen, hat das Evangelische Stift die Gründung des neuen, theologisch-konservativen Hauses, sicherlich als Affront verstanden", sagt Rolf Hille. In den letzten Jahren hätten sich Bengelhaus und Stift allerdings aufeinander zubewegt. So habe er in seiner Zeit als Rektor beispielsweise mit dem Ephorus des Stifts, Volker Drecoll, eine gemeinsame Übung für Studenten beider Häuser angeboten - "das wäre zu Gründungszeiten unvorstellbar gewesen".
Auch der jetzige Rektor des Bengel-Hauses, Clemens Hägele, ist für viele gute Kontakte zu Stift und Evangelischer Fakultät dankbar. Da das ABH-Gebäude in die Jahre gekommen sei, stehen derzeit viele Renovierungsarbeiten an, berichtet er, gleichzeitig soll der Kreis der Dozenten im Haus ausgebaut werden. Bei allen derzeitigen Aufgaben bleibe das Haupanliegen aber weiterhin, Glaube und Studium zu verbinden. "Wir möchten, dass im ABH das Studium akademischer Theologie und die Nachfolge Jesu als Einheit erlebt und gelebt wird."
Nach Ansicht von Rolf Hille ist es mit der Gründung des Bengelhauses gelungen, das theologische Profil des Pietismus nachhaltig und langfristig zu stärken: Grund dafür sei die Studienbegleitung und die Doktorandenarbeit des Hauses sowie die Netzwerke, die durch das gemeinsame Wohnen im Haus entstanden. "Dieses eigenständige theologische Profil wurde über viele Jahre aufgebaut und konnte in die Landeskirche eingebracht werden."