Ich werde oft gefragt, ob die Predigt am Sonntag und sonstige Äußerungen der Kirche denn nun "politisch" sein dürfen oder nicht. Ereignisse wie die Vorfälle in Chemnitz in der vergangenen Woche fachen die Diskussion darüber neu an.
Bei der Beantwortung dieser Frage hilft mir der Blick auf die Anfangsgeschichte der christlichen Kirche, wie der Evangelist Lukas sie in der Apostelgeschichte darstellt. Paulus sucht in dieser Geschichte (Apg. 17,16f) sehr bewusst den öffentlichen Raum der damaligen Zeit auf, den Marktplatz auf dem Areopag. Er bewegt sich damit in der polis – also den Lebensbereich, der sich vom privaten Bereich, vom Haus deutlich unterscheidet. Von polis kommt "politisch". Und von Paulus kann man zweierlei lernen: Dass dies sehr wohl ein Ort für Christen ist. Und wie sich Christen in diesem Raum der Öffentlichkeit verhalten sollten.
Zunächst einmal: Respekt, Paulus, für deine Selbstbeherrschung! Ich kann mir gut vorstellen, wie wütend du warst, da auf dem Marktplatz in Athen. Der war voller Götzenbilder, die zum Verkauf angeboten wurden, frei nach dem Motto: Mach dir deinen Gott doch passend, denn du entscheidest schließlich, wofür du ihn gerade brauchst. Ein Gott gefertigt nach deinen Wünschen und Werten, in Holz, in Stein, in Metall, je nach Geschmack und Geldbeutel.
Ich verstehe, dass du wütend warst. Ich kann mich in dich hineinversetzen. Heute zum Beispiel, Paulus, auf unseren Straßen und Plätzen, da tragen sie wie ihr Götzenbild eine Idee vor sich her: Die Idee, dass ohne die Fremden alles besser wäre, dass es keine Gewalt geben würde und keine Messer, keine Ungerechtigkeiten mehr, sondern Arbeit und Auskommen für alle. Da werde ich auch wütend, und wie.
Das letzte Hemd statt Altkleiderspenden
Denn die Wahrheit spielt plötzlich keine Rolle mehr. Dass es schon vor den Fremden so nicht war und auch ohne sie gewiss nicht so werden würde. Dass all die Wut und Unzufriedenheit von woanders her kommen muss. Weil es uns allen wirtschaftlich noch nie so gut gegangen ist und wir noch nie so satt und sicher gelebt haben. Die gemessene Wahrheit aus allen Kriminalitätsstatistiken und Wirtschaftsanalysen spielt plötzlich keine Rolle mehr gegenüber gefühlten Wahrheiten. Ich werde wütend darüber und ungehalten. Aber ich versuche, mich zu beherrschen, so wie du, Paulus, es getan hast. Und wie du versuche ich, einzugehen auf die merkwürdigen Vorstellungen der anderen. Wenn auch widerwillig – ich will ergründen, wie sie wohl zu ihren Überzeugungen und Wahrheiten gekommen sind. Respekt, Paulus, für deinen Respekt vor den anderen und deine Selbstbeherrschung.
Und noch etwas, Paulus. Als du damals auf dem Markt gestanden hast, in der großen Stadt Athen, da wart ihr noch sehr wenige, ihr Christen. Und heute merken wir gerade wieder, wie sich das anfühlt, wenn wir wirklich als Christen leben und diese eine Wahrheit laut aussprechen: "Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst." Daran sollen wir uns ja halten. Das ist die Summe der Gebote. Und als wäre das nicht schon schwer genug, ist da auch noch Jesus von Nazareth mit seiner Bergpredigt, dem das alles noch nicht reicht. Nicht nur Nächstenliebe, sondern Feindesliebe. Keine Kleiderspenden aus deinem abgelegten Zeug sondern dein letztes Hemd für die anderen.
Eine 2000 Jahre alte Lehre, fast ohne Gebrauchsspuren
Die Wahrheit ist heute: Der Verdacht der griechischen Philosophen, mit denen du dich herumstreiten musstest auf dem Markt, hat sich bestätigt. Das ist ein fremder Gott, der so etwas verlangt, immer noch ein fremder Gott, auch nach 2000 Jahren Christentum. Denn er fügt sich einfach nicht ein in unsere Welt, egal wie man an ihm schnitzt und hämmert. Eine 2000 Jahre alte Lehre und sie ist immer noch nagelneu, fast ohne Gebrauchsspuren.
Manchmal kommt es mir so vor, als wären wir schon wieder in der Minderheit, Paulus. Wie kann man einstehen für diese Lehre, für die Wahrheit, heute, auf den Straßen und Plätzen, in der Zeitung und im Netz?
Du machst es mir ja vor: "Raus mit der Wahrheit" heißt "raus aus der persönlichen Komfortzone." Nicht warten, bis jemand um eine Stellungnahme bittet, sondern gleich Position beziehen. Handeln und nicht bloß reagieren. Am richtigen Ort bin ich wahrscheinlich dann, wenn sie die Köpfe schütteln über mich und schnell weitergehen, so wie damals bei dir in Athen.
Und auch im Kampf für die Wahrheit des Evangeliums kann man sich nur der Mittel des Evangeliums bedienen: Der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit, in den Worten und den Taten. Einige haben dir zugehört, damals in Athen, dir und deiner unbequemen Wahrheit und dir geglaubt. Einige, nicht alle. Aber sie machen den Unterschied!