Warum mir das 2018 wichtig war: Heimat - dieses Wort war 2018 in aller Munde. Jeder versteht etwas Anderes darunter, es ist schwer zu definieren und oftmals nicht wirklich greifbar. "Wo die Weser einen großen Bogen macht [...], da ist meine Heimat, da bin ich zu Haus", singen wir in meiner Heimat, dem Weserbergland, gern auf feucht-fröhlichen Volksfesten. Und so habe ich mich dieses Jahr mit dem Fahrrad aufgemacht, für die evangelisch.de-Leser die kirchlichen Höhenpunkte zwischen Höxter und Hameln (wieder) zu entdecken. Ich wollte anderen Menschen Lust auf diese doch recht abgelegene Region (knapp eine Stunde bis zur nächsten Autobahn) machen, die vielleicht gerade deshalb aus meiner Sicht einen ganz besonderen Charme entwickelt hat. Und ich habe selbst etwas gelernt: Manchmal wird man überrascht, wenn man Vertrautes mit anderen Augen sieht und so die eigene Heimat, der man schon vor Jahren räumlich den Rücken kehren musste, neu entdeckt. Diese Erfahrung und die Begegnungen mit den Menschen vor Ort machen diesen Artikel und die Bildergalerie so wertvoll für mich. - Lena Ohm, Redakteurin bei evangelisch.de
Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein: viele Menschen schlendern langsam über den Höxteraner Markt. Eine Verkäuferin unterhält sich über die Wursttheke hinweg mit einer Kundin, die Blumen am Stand gegenüber lassen wegen der Hitze langsam die Köpfe hängen und fast sämtliche Plätze vor den Cafés und Bäckereien sind voll besetzt.
Ein älteres Ehepaar in typisch-enganliegender Fahrradfunktionskleidung guckt sich interessiert die malerischen Fassaden der alten Fachwerkhäuser an, bevor sie nach kurzem Zögern die wenigen Stufen zur St.-Nikolai-Kirche hinaufgehen und das katholische Gotteshaus betreten. Erfrischende Kühle und dämmriges Licht empfängt die beiden. Ein paar Menschen sitzen bereits in den vorderen Reihen – es ist Zeit fürs kurze Mittagsgebet. Priester Jonas Klur lädt das Pärchen zum Mitbeten ein. Sie zögern, wirken verunsichert und setzen sie sich dann doch dazu. "Das ist schon typisch. Viele stolpern sozusagen etwas unverhofft hier rein, nehmen die Einladung zum Beten und Reden dann aber doch an", erzählt Klur.
Nach der kurzen Andacht sucht der Mann das Gespräch mit dem Priester: Vor einer Woche sei der Cousin seiner Frau mit seinem Motorrad tödlich verunglückt, das habe sie beide sehr mitgenommen. Um den Kopf frei zu kriegen, seien sie aufs Fahrrad gestiegen und schließlich hier gelandet. "Und dieses kurze Gebet und das Innehalten hier haben so gutgetan. Das war eine so wunderbare Überraschung, das hätte ich nicht besser planen können." So ein Lob freut Jonas Klur natürlich. Und es zeigt: die offenen Kirchen entlang des Weser-Radweges können mehr sein als nur architektonische Sehenswürdigkeiten.
Rund eine viertel Million Menschen waren im vergangenen Jahr laut Martin Weiher von Weserbergland Tourismus e.V. auf dem Weser-Radweg unterwegs, der von Hann. Münden im Weserbergland bis Cuxhaven an der Nordsee verläuft. In der ADFC-Radreiseanalyse 2017 ist der Weser-Radweg sogar als zweitbeliebtester Radfernweg Deutschlands ausgezeichnet worden. 15 evangelische Radwegekirchen verteilen sich auf die rund 500 Kilometer lange Strecke – vier davon liegen auf der zwei-Tages-Etappe durchs Weserbergland zwischen Höxter und Hameln.
Rainer Siegel ist mit seiner Familie aus Düsseldorf angereist, um in zehn Tagen den Weser-Radweg entlang zu fahren. Die Mischung aus Sport, Kultur und frischer Luft reizt ihn. In der St. Kiliani Kirche in Höxter bewundert er zusammen mit seiner Tochter die Barockorgel, die Epitaphen und die Kreuzigungsgruppe am Altar. "Ich habe jetzt nicht unbedingt in jeder Kirche hier auf dem Weg ein spirituelles Erlebnis", gesteht Siegel, der sich selbst als recht frommen Mann bezeichnet, lächelnd, "aber ich bete gerne wenigstens ein Mal in jeder Kirche, an der wir vorbeikommen." Das Fahrradfahren ist für den Körper, der Kirchenbesuch für die Seele.
Vom Konzept der Radwegekirchen ist er begeistert: "Ich finde es fantastisch, dass die offenen Kirchen für Radfahrer zu einer Anlaufstelle werden. So bieten die Kirchen den Menschen, was sie gerade brauchen." Radwegekirchen erkennt man an einem speziellen Signet. Um es zu bekommen, müssen sie bestimmte Kriterien erfüllen: Zwischen Ostern und dem Reformationstag müssen sie zum Beispiel tagsüber verlässlich geöffnet sein. Außerdem bieten sie Radfahrern in der Regel geeignete Abstellmöglichkeiten für Fahrräder mit Gepäck, Orte zum Rasten, sie legen Informationen zum Radweg, zu Übernachtungsmöglichkeiten oder zur nächstgelegenen Fahrradwerkstatt aus und ermöglichen den Zugang zu Trinkwasser und Toiletten.
"Die Kirchen hier in der Region sind definitiv touristische Ausflugsziele und werden von den Radfahrern wahrgenommen", bestätigt auch Martin Weiher. Zwar seien die Kirchen bei den wenigsten Radfahrern der Hauptgrund für die Fahrt, aber viele hielten halt doch gerne an, um sie sich anzusehen. Deswegen gibt es in der App "Historisches Weserbergland" und auf der gleichnamigen Seite auch die Kategorie "Glaubenswege": von Mausoleen über Kirchen und Klöster bis hin zu ungewöhnlichen Kirchenmännern wird dort die Bandbreite des touristisch interessanten, religiösen Lebens im Weserbergland vergangener Zeiten dargestellt.
Ein absolutes Highlight etwas weiter die Weser entlang ist das UNESCO-Weltkulturerbe Corvey. Das heutige Schloss und ehemalige katholische Benediktinerkloster besuchen laut Michael Funk, Geschäftsführer des Kulturkreis Höxter-Corvey, jährlich rund 100.000 Menschen. An das Dasein Corveys als Zentrum der christlichen Kultur in Nordwesteuropa im 9. und 10. Jahrhundert erinnert heute vor allem das erhalten gebliebene Westwerk. Die karolingischen Abteigebäude wurden während des Dreißigjährigen Krieges stark zerstört, der Neubau der Abtei erfolgte als barocke Residenz.
Der wohl berühmteste Bewohner Corveys war August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der neben vielen bekannten Kinderliedern ("Summ-Summ-Summ", "Ein Männlein steht ihm Walde") auch das "Lied der Deutschen" geschrieben hat. Als politisch Verfolgter, so Funk, habe Hoffmann von Fallersleben in Corvey Asyl bekommen und dort als Bibliothekar arbeiten können. "Unsere Nationalhymne wurde also sozusagen von einem Flüchtling gedichtet", sagt Michael Funk.
Andrea Kochniß hat an diesem Tag ihren ersten Arbeitstag als Museumsaufsicht – vorher war sie lange Zeit fast jede Woche als Besucherin dort. "Mein Lieblingsort ist der Kreuzgang", sagt sie ohne zu zögern. "Diese Ruhe, diese Erhabenheit, diese Ausstrahlung – hier auf dem Gelände kann ich meine Gedanken schweifen lassen. Dieser Ort ist immer wieder etwas ganz Besonderes für mich", erzählt sie. Das liegt vielleicht auch ein bisschen daran, dass sie hier 2014 ihren jetzigen Ehemann Axel Kochniß kennengelernt hat. Im April 2017 dann die Hochzeit – natürlich in Corvey. Ihr Mann gehört wie sie zum Team der Museumsaufseher. Sein Geheimtipp: der Friedgarten.
An der Weser entlang führt der Radweg weiter nach Holzminden. Auch hier sind die Plätze vor den Eiscafés und Pizzerien auf dem Marktplatz gut gefüllt. Von vielen Tischen aus kann man die Lutherkirche sehen, die seit 2012 offizielle Radwegekirche ist. Auf dem Platz vor der Kirche steht eine der zahlreichen Duftstelen, die überall in der "Stadt der Düfte und Aromen" (einer der weltweit größten Duft- und Aromastoffhersteller, Symrise, hat in Holzminden seinen Hauptsitz) zu finden sind. Hebt man den Deckel, bekommt man eine Vorstellung davon, wie das im 2. Buch Mose (30, 22–33) erwähnte "Heilige Salböl" wohl gerochen haben muss – eine Kombination aus Myrrhe, Zimt, Kalmus und Kassia.
Die kühle Luft in der Lutherkirche legt sich beruhigend auf die von der Sonne und dem Fahrradfahren erhitze Haut. Die ersten Töne des "Frühling" aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten" hallen durch den Raum – der Organist probt gerade für das am Abend stattfindende Konzert. Einige Besucher setzen sich in die Kirchenbänke. Manche haben den Blick nach vorne in den reich verzierten Altarraum gerichtet, andere genießen die Musik mit geschlossenen Augen. "Wir bieten eine Musik zur Marktzeit an und 20-minütige Kurzkonzerte, damit sich die Menschen kurz aus ihrem Alltag ausklinken können", erklärt Anne-Kathrin Bode, Pastorin der Lutherkirche.
Gerade im Sommer merke sie anhand der meist vollbestückten Kerzenkugel und den vielen kleinen Gebetszetteln am schlichten Holzkreuz neben dem Taufbecken, dass in der Kirche viel Betrieb herrsche. Hin- und wieder werde sie auch mal auf den liebevoll restaurierten Altarraum angesprochen. Es überrasche die Leute, so etwas in einer Kleinstadt vorzufinden. "Es kommen sehr viele Radtouristen vorbei, deshalb haben wir für die Radfahrer auch extra Flyer entwickelt, die ihre Bedürfnisse im Blick haben", so Bode. Seit März 2012 ist die Lutherkirche offiziell Radwegekirche, die Aufnahme in die Liste sei ein "naheliegender Schritt" gewesen.
Lässt man Holzminden auf der Hauptroute mit dem Fahrrad hinter sich, erstrecken sich rechts und links des Weser-Radwegs zuerst einige Kilometer lang Kornfelder und Wiesen. Auf der Weser tummeln sich die Wassersportler: Hier fahren nicht nur Motorbote, Kanus, Kajaks, Flöße oder Schlauchbote, dieser Bereich ist auch für Jetskis und Wasserski freigegeben. Schattiger wird die Strecke erst kurz hinter Forst, wo die Weser einen leichten Bogen macht. Steil erhebt sich das Bruchholz zur rechten der Fahrradfahrer und wirft einen Schatten auf den Fahrradweg. Schon aus der Ferne erkennt man einen Kirchturm und die ersten Häuser eines Dorfes: Heinsen.
Verlässt man den gut ausgebauten Fahrradweg, kommt man zur kleinen Fähranlegestelle. "Fährmann, hol' über", steht auf dem kleinen Schild neben einer Glocke. Von hier hat man einen wunderschönen Blick: auf den Weserbogen, auf eine Reihe alter Fachwerkhäuser und auf die Kirche St. Liborius direkt am anderen Ufer, deren Umrisse sich im Wasser spiegeln.
In diesem Abschnitt des Weser-Radweges gibt es in relativ kurzen Abständen gleich drei Fähren, mit denen man zwischen den beiden Weserseiten hin- und herwechseln kann: die in Heinsen, eine historische Gierseilfähre einen Ort weiter in Polle und eine Solarfähre in Grave. In Polle lohnt sich ein Zwischenstopp auf der Burgruine der Grafen von Everstein. Dort ist das angedichtete Zuhause von Aschenputtel, welches sich regelmäßig beim Aschenputtel-Freilichtspiel seinen Fans zeigt. Und man hat von der Burgruine aus einen fantastischen Blick über das Wesertal.
Durch die Rühler Schweiz mit der Radwegekirche St. Markus in Dölme führt der Weser-Radweg weiter nach Bodenwerder – die Heimatstadt des sagenumwobenen Barons von Münchhausen. Die Spuren des unvergleichlichen Fabulierers sind in der Stadt nicht zu übersehen: das zu Beginn des 17. Jahrhunderts erbaute Herrenhaus der Adelsfamilie dient heute als Rathaus, die Tourist-Information ist im ehemaligen Brennereihaus untergebracht und drei Brunnen erzählen von Münchhausens Abenteuern – unter anderem von seinem legendären Ritt auf einer Kanonenkugel.
Von Bodenwerder aus geht es weiter nach Grohnde, wo sich eine erneute Fährfahrt mit einer historischen Gierseilfähre lohnt. Denn von dieser Weserseite aus ist ein kleiner Schlenker über den Emmer-Radweg zu einer der schönsten Renaissanceanlagen in ganz Deutschland ein Muss: dem Schloss Hämelschenburg. Zu dem Weserrenaissanceschloss gehört auch die St.-Marien-Kirche, die ebenfalls Ziel auf dem Pilgerweg Loccum – Volkenroda ist. Die Kirche gehört zu den ersten Kirchen Norddeutschlands, die nach der Reformation gebaut wurden. Sie ist die älteste freistehende evangelische Kirche in Deutschland.
Schlusspunkt der zweiten und letzten Etappe auf dem Weser-Radweg ist die Rattenfänger-Stadt Hameln. Neben den alten Fachwerkhäusern beeindruckt vor allem der Anblick des Münsters St. Bonifatius. "Unsere Kirche ist definitiv ein Touristenmagnet, auch für Radfahrer", bestätigt die Pfarrerin Friederike Grote.
Beim Betreten des Gotteshauses wird jeder Besucher persönlich freundlich begrüßt: Die Kirchengemeinde hat seit mehr als 20 Jahren eine sogenannte "Willkommensgruppe", in der es sich Ehrenamtliche zur Aufgabe gemacht haben, Besuchern im Münster bei Fragen zur Seite zu stehen. "Zehn Prozent der Touristen suchen am Ende das Gespräch", schätzt Küster Joachim Ruppel. Pfarrerin Friederike Grote sieht die Bestrebungen der offenen Kirchen als gute Tradition. "Wir suchen immer nach neuen Wegen, uns zu öffnen. Denn Offenheit ist doch ein Zweck von Kirche und Gemeinde", so Grote.
Da das Münster St. Bonifatius in Hameln nicht nur seit sechs Jahren Radwegekirche ist, sondern auch am Pilgerweg Loccum-Volkenroda liegt, gibt es im Münsterhaus auch eine Übernachtungsgelegenheit. Die steht aber nicht nur Pilgern offen, auch Radfahrer, die spontan eine Unterkunft brauchten, wurden dort schon einquartiert. "Dieses Strahlen, wenn den Leuten plötzlich in der Kirche geholfen wird. Und spätestens, wenn sie die Duschen sehen, fallen sie dir um den Hals", erzählt Ruppel lachend.
Ob Duschen, Toiletten, Wasser oder Schokoriegel für die körperlichen - oder Andachten, Orgelmusik, Kerzenbäume oder Gebetsbücher für die geistigen Bedürfnisse: Die Radwegekirchen im Weserbergland lassen sich einiges einfallen, um müde Radfahrer zu versorgen. Und zeigen so, dass Kirche für die Menschen da ist.
Dieser Artikel erschien erstmals am 8. August 2018 auf evangelisch.de.