Vornübergebeugt sitzt Leander am Tisch und füllt sein Arbeitsblatt aus. Er soll Anfangssilben erkennen. "Wenn ein Wort auf –keit endet, dann ist es ein Nomen und ich muss es immer groß schreiben, richtig?", fragt der Achtklässler. "Das hast du sehr gut erkannt. Und wenn du dir das merkst, macht es die Rechtschreibung gleich viel leichter, weil du gar nicht mehr überlegen musst", antwortet Martin Klocke lobend. Die beiden lachen und scherzen, es ist eine angenehme Atmosphäre, in der Leander seine Aufgaben bearbeitet – keine Spur von Druck oder Angst, eine angeblich dumme Frage zu stellen.
So eine eins-zu-eins Förderstunde hat jeder Schüler mit einer Lernstörung an den CJD Christopherusschulen in Berchtesgaden einmal die Woche – rund 40 Prozent der Mittelschulen-Schülerschaft sind davon betroffen. Vier Lernstörungsförderkräfte kümmern sich darum, dass diese Kinder trotz ihrer Probleme nicht auf der Strecke bleiben. "Viele Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie haben in ihrer Schulzeit immer nur zu hören bekommen, dass sie das alles ja eh nicht können und viele resignieren irgendwann und verinnerlichen das", erklärt Martin Klocke, der seit 25 Jahren Legasthenie-Therapeut ist. "Unsere Aufgabe ist es, den Kindern zu zeigen, dass die Schule auch ein Ort ist, an dem sie ihre Stärken zeigen können." Dafür müsse man sich individuell auf jeden Schüler einstellen, denn oft seien die Begleiterscheinungen der Lernstörung wie zum Beispiel Schulangst das viel größere Problem. "Wir müssen uns immer wieder fragen: Was macht das mit dem Kind?" Oft beeinträchtigt eine Lernstörung zum Beispiel die Motivation oder das Selbstbewusstsein eines Schülers – beides versuchen die Legasthenie-Therapeuten Schritt für Schritt wieder aufzubauen, in dem sie die Schüler positive Erfahrungen machen lassen und sie für gut gemachte Arbeit loben.
Welchen Unterschied diese Herangehensweise machen kann, hat auch Leander gemerkt. Vor zehn Jahren wurde bei ihm Diabetes diagnostiziert und dann kam auch noch Legasthenie hinzu. "Zu Hause hatte ich schlechte Noten und wurde zurückgestuft", erzählt der 14-Jährige. Seine Mitschüler hätten ihn wegen seiner "hässlichen" Schrift gehänselt und alle anderen davor gewarnt, ihm nicht zu nahe zu kommen, weil sein Diabetes ansteckend sei. "Ich war immer der Außenseiter und irgendwann hatte ich auch keine Lust mehr mich anzustrengen und habe die Schule einfach verweigert."
Vor drei Jahren ist er schließlich ins Internat der CJD Christopherusschulen in Berchtesgaden gezogen und geht seitdem auf deren Mittelschule. "Hier habe ich ganz schnell Freunde gefunden, niemand hat Berührungsängste und ich stehe morgens mit einem Lächeln auf und gehe gerne zur Schule, weil ich Spaß am Unterricht habe", erzählt Leander begeistert.
Die Mittelschule (früher Hauptschule) der CJD Christopherusschulen ist dem Rehabilitationszentrum des CJD Berchtesgaden angegliedert. Sie ist auf Kinder mit chronischen Krankheiten (vor allem Diabetes, Asthma und Mukoviszidose), Teilleistungsstörungen (Legasthenie, Dyskalkulie, AD(H)S) und Nachwuchssportler spezialisiert. Deswegen führt der Hauptweg an die Schule auch entweder über den medizinischen Bereich oder über die Sportförderung. Für die übrigen Plätze gibt es lange Wartelisten, da vor allem die intensive Förderung von Kindern mit Legasthenie oder AD(H)S auf viele Eltern überzeugend wirkt. Außerdem erreichen zwischen 60 und 70 Prozent der CJD-Mittelschulen Schüler den qualifizierten Hauptschulabschluss, das sind deutlich mehr als in den Regelschulen.
Als Förderzentrum für körperliche und motorische Entwicklung habe die Mittelschule besondere Rahmenbedingungen, wie der Schulleiter Anton Kaunzner sagt. Dazu gehören unter anderen kleinere Klassen und viele Förderangebote. "Wir können sehr individualisiert und differenziert unterrichten. Außerdem haben wir eine höhere Lehrerstundenzuweisung als im Regelschulbereich", erklärt er. Die Schule arbeitet mit dem Klassenleiter-System, was bedeutet, dass der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin zwischen 18 bis 20 Stunden Unterricht pro Woche in der Klasse hat. "Dadurch bekommen unsere Lehrer ein umfassendes Bild der Schüler und können wirkliche Beziehungsarbeit leisten", so Kaunzner.
Außerdem erleichtere dieses System den fächer- und klassenübergreifenden Unterricht, der oft religiöse Bezüge aufweise. "Wir sind hier große Verfechter der Kirche von unten, die Denkprozesse in Gang setzt", sagt Kaunzner und führt aus, "Unsere Biologielehrer nehmen auf Wanderungen durch den Nationalpark gerne auch Religionslehrer mit, die dann Mitten in der Natur eine kleine Andacht zur Bewahrung der Schöpfung halten – so werden die christlichen Gedanken gleich viel greifbarer." Die Mittelschule bietet sowohl katholischen als auch evangelischen Religionsunterricht an – die Teilnahme an einem der beiden Angebote ist für alle Schüler verpflichtend. Gottesdienste und Andachten werden normalerweise entweder mit dem Pfarrer in der Kirche auf dem Gelände oder in der Aula abgehalten.
Die Rahmenbedingungen der Schule sorgen auch dafür, dass selbst die chronisch kranken Kinder am Sport- und Schwimmunterricht teilnehmen können. Die 13-jährige Johanna ist Asthmatikerin und nimmt seit vier Jahren an der medizinisch-schulischen Rehabilitation teil. Alle zwei Wochen muss die Siebtklässlerin Lungenfunktionstests und andere medizinische Messungen machen lassen. Dank eines auf das jeweilige Kind zugeschnittenen, von Ärzten, Therapeuten und Lehrkräften ausgearbeiteten Stundenplangerüsts werden die Auswirkungen der Fehlzeiten jedoch so gering wie möglich gehalten. Und im CJD-Schwimmbad kann Johanna trotz ihrer Krankheit problemlos mit den anderen Mädchen schwimmen, tauchen und Spaß haben – ein besonderes Reinigungssystem und der reduzierte Einsatz des Chlors machen es möglich. So werden die Atemwege der Asthmatiker geschützt und ihnen die Teilhabe am Alltag ermöglicht – ganz im Sinne des Namensgebers Christophorus wird kein Kind zurückgelassen.
Dass die individuelle Förderung der Kinder ein zentrales Anliegen der Schule ist, zeigt sich auch daran, dass beispielsweise in der Inklusionsklasse in Jahrgang 9 nach fünf verschiedenen Lehrplänen unterrichtet auf einmal wird. "Diese Ausdifferenzierung ist wichtig, damit wir jedem einzelnen gerecht werden. Denn Verhaltensstörungen entstehen oft aus Überforderung und die versuchen wir so zu vermeiden", erklärt Simone Marder, die Klassenlehrerin der Inklusionsklasse.
Sie verwende die Materialien der Montessori-Pädagogik und versuche den Unterricht so handlungsorientiert und lebenspraktisch wie möglich zu gestalten. "Dadurch, dass wir nur sehr wenige gebundene Stunden und viel Freiarbeit haben, kann ich viel Zeit in eins-zu-eins Pädagogik investieren. Und davon profitieren besonders die schwachen Schüler, weil sie mich im direkten Gespräch Dinge fragen können, für die sie sich sonst geschämt hätten", so Marder. Neben fachlicher Kompetenz möchte sie ihren Schülern auch unabhängig vom Religionsunterricht christliche Werte vermitteln. "Mir ist ein respektvoller, gewaltfreier Umgang miteinander wichtig und dass jeder Mensch so sein kann, wie er ist, und auch so akzeptiert wird." Die Wertevermittlung bedeutet auch Schulleiter Kaunzner viel. Er hofft, dass seine Schüler zu ehrlichen, rücksichtsvollen und zuverlässigen Menschen heranwachsen und dass ihre Schulzeit sie nicht nur fachlich, sondern auch menschlich gut auf die Zukunft vorbereitet.
Leander möchte nach seinem Schulabschluss gerne Pädagoge im CJD werden, weil er gerne mit Menschen arbeitet und weil er etwas zurück- und weitergeben wolle. "Ich weiß, wie es ist, wenn man chronisch krank und gleichzeitig auch noch Legastheniker ist. Und ich weiß, wie das Leben hier im Internat ist – wer kann dann besser für die Schüler da sein als jemand, der die Erfahrungen alle selbst gemacht hat?", fragt er selbstbewusst. Bis dahin dauert es zwar noch etwas, aber Leander wäre nicht der erste ehemalige Schüler, den es als Erwachsenen zurück zu den CJD Christopherusschulen in Berchtesgaden geführt hat.