Die drei jungen Männer in der geräumigen Wohnung am Rande des Zentrums der litauischen Hauptstadt Vilnius sind guter Dinge. Hier lebt Giedrius Padriezas zusammen mit einem Freund in einer Männer-Wohngemeinschaft. Auch Egidijus Paulauskas schaut immer dann rein, wenn Zeit ist. Schließlich ist ein gemeinsamer guter Bekannter aus Deutschland zu Besuch. Die Männer sitzen in der Küche und plauschen über alles Mögliche. Der Lachfaktor ist hoch.
Erst als der Besuch aus Deutschland unvermittelt nach dem Verhältnis der drei Litauer zu Religion und Kirche fragt, verstummen sie. Aber nicht, weil sie die Frage ungehörig finden. Sie haben solches nicht erwartet. Insbesondere Giedrius Padriezas schaut sichtlich verwirrt. "Ich kenne niemanden, der etwas mit Religion zu tun hat", sagt er, nachdem er sich gesammelt hat
Egidijus Paulauskas nutzt die Gelegenheit zu erzählen, dass er sich verlobt habe. Die Hochzeit soll in diesem Jahr sein. Auch kirchlich. "Aber das", sagt der Ehemann in spe, "ist der Wunsch meiner Frau." Ihr sei der Glaube wichtig. Sie besuche Ostern und Weihnachten die Gottesdienste. "Ich selbst mache mir nichts aus Religion und Kirche", ergänzt Paulauskas.
Wie den beiden jungen Männern geht es den meisten Litauern. Kirche und Religion spielen in ihrem Leben keine oder nur eine geringe Rolle. Wenn doch, geschieht dies unter dem Dach der katholischen Kirche. Denn mehr als 75 Prozent der knapp drei Millionen Litauer sind römisch-katholisch. Protestanten gibt es knapp 27.000 im Land. Davon gehören knapp 20.000 der Evangelisch-Lutherische Kirche in Litauen (ELKL) an. Die restlichen 7.000 Protestanten sind Mitglieder der Evangelisch-Reformierte Kirche in Litauen. Weitere vier Prozent der Litauen gehören der Russisch-Orthodoxen Kirche an. So steht es in der "Länderinformation Baltische Staaten" der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD).
Obwohl die Protestanten klar in der Minderheit sind, feierten die Litauer wie viele andere Menschen im vergangenen Jahr das 500. Reformationsjubiläum. Den Weg dafür hatte sogar das litauische Parlament mit einem Beschluss bereitet. "Das hat alle überrascht, weil es niemand erwartete", sagt Tomas Šernas. Er ist Pfarrer der reformierten Gemeinde im Zentrum von Vilnius, seit 2010 Generalsuperintendent seiner Kirche und litauischer Nationalheld.
"Wir konnten das Reformationsjubiläum mit vielen Veranstaltungen und Konzerten in ganz Litauen würdig feiern und damit auch eine erstaunliche Öffentlichkeit schaffen", zieht denn auch Mindaugas Kairys, Gemeindepfarrer und Leiter der Diakonie der Lutherischen Kirche in Litauen, in seinem Weihnachtsrundbrief an die deutschen Partnergemeinden eine positive Bilanz. Und: "Im Hof unseres Bischofssitzes in Vilnius wurde eine Lutherstatue unter Beteiligung des katholischen Erzbischofs und weiterer katholischer Würdenträger eingeweiht. Dieses vertrauensvolle Miteinander hat uns sehr bewegt." Weitere Stellungnahmen von der lutherischen Kirche waren nicht zu bekommen.
Damit die Reformation über das Jahr 2017 hinaus in der öffentlichen Diskussion bleibt und weil Bücher in litauischer Sprache zum Thema Mangelware sind, ist Mitte Dezember ein 230 Seiten dicker Sammelband "Reformation – gestern und heute" erschienen. Darin beleuchten neun Autoren das kulturelle Erbe der Reformation, die Rolle der Predigt, die Geschichte des Pietismus und die Frauen der Reformation. Weitere Themen sind die Baptisten in der Sowjetzeit sowie "die kommunistische Vereinnahmung mancher Evangelischer". Gefördert wurde das Projekt mit 7000 Euro durch das litauische Kultusministerium. Über all das informiert der Lahaynesche Rundbrief mit Namen "Labas".
Trotz der Kritik aus dem reformierten Lager scheinen Reformierte und Lutheraner in grundsätzlichen Fragen indes nahe zu stehen. "Die Protestanten des Landes sind konservativ geprägt; die Autorität der Bibel wird hochgehalten. So gibt es in grundlegenden theologischen und ethischen Fragen einen viel breiteren Konsens als in Ländern Westeuropas", schreiben die Lahaynes selbst. Beispielsweise würden gleichgeschlechtliche Partnerschaften in allen Kirchenleitungen einhellig als unmoralisch abgelehnt.
Eine funktionierende Kirche gab es Jahrzehnte nicht
Für Pfarrer Frank Erichsmeier ist diese Sicht der Dinge nicht weiter verwunderlich. Er ist Pfarrer in Detmold und Leiter des reformiert-lutherischen Partnerschaftsausschusses der Lippischen Landeskirche. Sie pflegt schon seit dem Jahr 1992 Beziehungen nach Litauen – gerade erst wurde ein neuer Partnerschaftsvertrag unterschrieben. Erichsmeier nennt die Ausrichtung der Litauer "weitgehend konservativ-konfessionalistisch". Die Distanz zur Frauenordination auch in den evangelischen Kirchen Litauens führt Erichsmeier darauf zurück – obwohl in beiden Kirchen nach der Unabhängigkeit zunächst einige Frauen ordiniert worden waren.
Die Wurzeln des Konfessionalismus liegen nach Erichsmeiers Überzeugung in der Geschichte. Vor allem zwischen 1945 und 1991, als Litauen zur Sowjetunion gehörte, mussten sich Gläubige im Untergrund treffen. Kirchliche Dokumente, Geistliche und eben alles das, was eine funktionierende Kirche ausmacht, gab es über viele Jahrzehnte nicht. Ganz zu schweigen von Kontakten in den Westen. Dies bestätigt Generalsuperintendent und Nationalheld Tomas Šernas: "Nach der Unabhängigkeit 1990 mussten wir alles wieder neu aufbauen. Aber es waren keine Theologen da."
Deshalb gab es bereits ab etwa 1988 "theologisches Know how", so Erichsmeier, aus dem Ausland. Insbesondere die Vertreter amerikanischer Gemeinden seien mit großem Sendungsbewusstsein ins Baltikum gekommen. Der Geist aus den USA mit seinen theologischen Konzepten sei in Litauen gut angekommen.
Und was ist von der Reformation geblieben? Dazu fällt Erichsmeier zuerst ein, dass es trotz sowjetischer Besatzung noch immer evangelische Gemeinden mit einem großen Bestand von evangelischen Kirchenliedern gebe. "Das ist denen ganz wichtig", sagt der Pfarrer aus Detmold. Als zweiten Aspekt nennt er die sehr intensive diakonische Arbeit durch Mindaugas Kairys. Er kümmert sich um Kinder, genauso wie um ehemalige Junkies.