Die mächtige Orgel des Rigaer Doms lässt Wände und Eingeweide der Zuhörer erschüttern. Auf dem Programm steht ein Konzert mit Werken von Bach, Haydn und anderen großen Komponisten. Die Kathedrale ist zu gut einem Drittel gefüllt. Manch ein Besucher lässt die Blicke schweifen. Der Blick eines jungen Mannes fällt auf eine eher auffällige Inschrift hinter der Kanzel.
Etwas ungläubig liest er leise den 26. Psalm. Die Verse sieben bis neun stehen da – auf Deutsch: "da man hört die Stimme des Dankens, und da man predigt alle deine Wunder. HERR, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt. Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern noch mein Leben mit den Blutdürstigen. Überhaupt könne die Kirche irgendwo im Norden Deutschlands stehen.
Tut sie aber nicht. Im Rigaer Dom inmitten der weltberühmten Altstadt konzentriert sich das kirchliche Leben des Landes. Er gehört zur konservativen Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettland (ELKL). Dort, im Kapitelsaal am Kreuzgang, feiert auch die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Lettland (DELKL) mit Pastor Markus Schoch meistens sonntags um 10 Uhr ihre Gottesdienste. Dies ermöglicht ein Partnerschaftsvertrag. Nur am jeweils ersten Sonntag im Monat findet der Gottesdienst um 13 Uhr in der Jesuskirche statt. Die Anzahl der Besucher ist überschaubar. Gerade einmal rund 250 Mitglieder hat die DELKL. Sie sind in fünf Gemeinden organisiert.
Letten und Deutsche feiern in diesem Jahr gleichfalls den 500. Jahrestag der Reformation. Doch abgesehen davon, dass die ELKL wegen der Ablehnung der Ordination von Pastorinnen insbesondere mit ihren Partnern der Nordkirche über Kreuz ist, sind die Ideen Luthers in der Öffentlichkeit nicht wirklich präsent. Und das noch weniger als im benachbarten Estland. Während die vom Reformator propagierten Werte wie Zuverlässigkeit, Strebsamkeit und Fleiß im estnischen Alltag durchaus zu spüren sind, sind sie in Lettland weniger verbreitet. Eine Erklärung dafür hat kaum jemand. "Die Reformation war die gleiche", sagt Schoch in Anspielung auf die Geschichte.
Reformation kam 1522
Nach Riga kam die Reformation mit am frühesten. Die Christianisierung begann oftmals mit roher Gewalt schon im zwölften Jahrhundert. Im 13. Jahrhundert war das sogenannte Altlivland, das etwa dem Gebiet des heutigen Estland und Lettlands entspricht, der Gottesmutter Maria geweiht. Trotz der dortigen Frömmigkeit verbreiteten sich Luthers Ideen über Riga, das heutige Tartu und Tallinn rasch. Schon 1517 kam Andreas Knöpken nach Riga und verkündete die reformatorische Lehre. Später kehrte er für Studien nach Treptow zurück und wurde im Jahr 1522 vom Rat der Stadt Riga zum Prediger an der St. Petrikirche berufen.
Wie in Estland, ist die Reformation in Lettland etwas Zweischneidiges. Einerseits hat Luther mit seinen Ideen die Entwicklung der Sprache und der Kultur gefördert. Damit die Menschen Gottes Wort verstehen und lesen können, entwickelte sich die Schriftsprache und es gab die gedruckte Bibel. Andererseits haben sich die Letten mit denen, die den Protestantismus predigten, nie wirklich anfreunden können. Der Grund: Es war die von der kleinen Herrscher-Schicht der Deutschbalten aufgezwungene Religion. Die blieb so bis zur Unabhängigkeitserklärung 1918 beziehungsweise dem folgenden Lettischen Unabhängigkeitskrieg. Die Auswirkung dieser wechselvollen Geschichte beschreibt Schoch so: "Die Religiosität ist nicht wirklich in die Volksseele eingedrungen."
Allerdings gibt es zwei große Ausnahmen: die pietistisch ausgerichtete Herrnhuter Brudergemeine und die Jesuiten. Die Herrnhuter, eine aus der böhmischen Reformation hervorgegangene überkonfessionell-christliche Glaubensgemeinschaft, hat durch ihr Laienprediger-Prinzip zahlreiche Anhänger in Lettland gewinnen können. Schon ihr Gründer Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf aus der Oberlausitz hatte Predigerreisen nach Estland, Livland, Kurland und England unternommen.
Die Jesuiten gründeten nach dem Livländischen Krieg im Jahr 1583 im estnischen Tartu ein eigenes Ordenskolleg und leiteten von dort aus die Gegenreformation ein. Ihnen spielte in die Hände, dass das Gebiet Teil der sogenannten Livländischen Konföderation und somit Teil des Doppel-Königreiches Polen-Litauen war. Dies alles hat dazu geführt, dass der Landesteil Latgallen heute mehrheitlich katholisch ist.
"Ein säkularisiertes Land"
Angesichts ihrer Geschichte kommt Schoch zu dem Schluss, dass Lettland "ein säkularisiertes Land" ist. Besonders die jungen Leute können anscheinend wenig mit Religion anfangen. "Ne, damit habe ich nichts zu tun", sagt zum Beispiel ein junger Mann am Rigaer Bahnhof. Auch eine Verkäuferin in den benachbarten Markthallen lacht bei der Frage nach ihrem Verhältnis zur Religion und den Lutherschen Ideen schallend. Ihr Antwort ist klar: "Dafür haben wir hier keine Zeit."
Solche und ähnliche Aussagen dürften für Schoch typisch sein. Der Geistliche, der noch bis August die deutsche Gemeinde in Riga betreut, sieht für die säkularisierte Gesellschaft allerdings nicht nur geschichtliche Gründe. Für ihn sei es "auch eine Frage der Mentalität". Schoch vergleicht Esten und Letten miteinander: Bekomme ein Este beispielsweise einen Auftrag, erledigt er ihn. Bei den Letten werde erst einmal ordentlich Zinnober betrieben. Auch die Korruption sei noch immer ein Problem.
Der junge Mann am Rigaer Bahnhof hat nicht nur nichts mit Religion am Hut. Ihm und seiner Freundin geht auch die konservative Ausrichtung der DELKL gegen den Strich. Dass keine Frauen Pastor sein dürften, "ist doch von gestern!" Beim Einsteigen in seinen Zug in Richtung Halbinsel Jurmala ruft er noch kurz: "Ob Luther das so gewollt hätte? Keine Ahnung!"