Mittwochmorgen, Saku. Am Haltepunkt der kleinen estnischen Gemeinde warten die Pendler auf den Zug. Auch das junge Paar ist wie jeden Morgen auf den Weg in die Hauptstadt Tallinn. Sie arbeitet als Bürokraft, er ist IT-Experte. Beide sprechen gut Englisch, wie viele der Esten. Bildung geht ihnen über alles. Trotzdem verstehen die beiden jungen Leute die Frage nicht. Reformation? Martin Luther? Nein, damit hätten sie nichts zu tun. Und in der Kirche seien sie auch nicht. Und wie sieht es mit dem Glauben an Gott aus? Der Mann wiegt den Kopf nachdenklich hin und her. "Ja, da ist sicherlich etwas. Aber ob es Gott heißt, weiß ich nicht", sagt er.
Eine typische Aussage. Im Jahr 500 nach dem Thesenanschlag von Martin Luther spielen die Kirche und die christliche Religion bei den meisten der rund 1,3 Millionen Esten keine Rolle. Zumindest nicht bewusst. Laut Statistik geben 72 Prozent der Bevölkerung an, sie seien konfessionslos. Zehn Prozent bezeichnen sich als evangelisch-lutherisch, jedoch 16 Prozent als orthodox. Hinzu kommen jeweils 0,5 Prozent Baptisten und Katholiken. Weitere 0,3 Prozent sind Muslime und 0,1 Prozent Juden.
100 Jahre lutherische Kirche haben Einfluss
Die Protestanten gehören meistens der 1917 gegründeten Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK) an. Sie feiert vom 25. bis 27. Mai ihren 100. Geburtstag. Aus diesem Grund überträgt das [Ulf Busch2] ZDF seinen Sonntagsgottesdienst unter anderem am 11. Juni aus der [Ulf Busch3] Schwedischen St. Michaels-Kirche in Tallinn. Dort ist die evangelisch-lutherisch Deutsche Erlösergemeinde zuhause.
Pastor der Gemeinde ist seit dem Jahr 2006 Matthias Burghardt. Wenn er über die Auswirkungen der Reformation auf die heutige estnische Gesellschaft nachdenkt, muss er ein wenig schmunzeln. Sein Lieblingswort für dieses Thema ist Ambivalenz. Zwar heiße es immer, kaum ein Este habe etwas mit Luther, Kirche, Glauben und Co zu tun. "Trotzdem", sagt Burghardt, "ist das reformatorische Erbe hier ziemlich hängengeblieben".
Beispiele hat er dafür gleich mehrere. Dazu zählen aus seiner Sicht, der Bildungshunger der Esten und dass sie sich gleich nach dem Ende der sowjetischen Besatzungszeit 1991 zu Europa gehörig gefühlt haben. Für Burghardt gehören dazu aber auch die Pressefreiheit, Transparenz der Verwaltung und die berühmte Singebewegung. Selbst der Umstand, dass es für die Esten selbstverständlich ist die Frau zu ehren, "wenn sie nicht Jungfrau, Nonne oder Mutter ist", gehört für ihn zum Erbe der Reformation. Burghardt zieht den Schluss: "Die Esten sind viel christlicher als es die Statistik zeigt."
Mit dieser Sicht auf die Gesellschaft des nordischen Landes steht Burghardt längst nicht alleine da. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch andere Kenner des Landes wie Lauri Hussar. Er ist Chefredakteur von "Postimees", Estlands auflagenstärkster Tageszeitung. Mit Blick auf den wirtschaftlichen Erfolg des Landes ab Mitte der 1990er Jahre ist der Journalist überzeugt: "Die Leute haben nicht vergessen, was protestantische Arbeitskultur ist." Hierzu zählten Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit.
Historisch begründete Ambivalenz
Dass die Esten gegenüber dem Protestantismus so ambivalent sind, hat in erster Linie geschichtliche Gründe. Der christliche Glaube wurde ihnen mit Gewalt aufgezwungen. Dies taten schon die ersten Christianisierer unter Bischof Adalbert von Bremen und die Ritter des Deutschen Ordens. Sie kamen im 13. Jahrhundert und gründeten im Baltikum den Deutschenordensstaat. Nicht anders ging es nach der Reformation zu. Sie erreichte das heutige Estland und Lettland, damals als Livland bezeichnet, bereits um 1517.
Von Anfang war der Protestantismus ein Glaube der Oberschicht, der sogenannten Deutsch-Balten, gewesen. Die Esten mussten ihn annehmen. Doch damit hielt die Idee Luthers Einzug, dass jeder Menschen die Bibel sowie Gottes Wort lesen und verstehen solle. Also musste eine estnische Schriftsprache her. Sie wurde von Pastoren der lutherischen Kirche entwickelt. Impulse gingen aber auch von der theologischen Fakultät der Universität in Estlands zweitgrößter Stadt Tartu aus. Dies gilt bis heute. Die theologische Fakultät ist seit der Gründung der Universität im Jahr 1632 durch König Gustav II. Adolf von Schweden einer ihrer integralen Bestandteile.
"Die Reformation hat viel für die estnische Kultur getan", zieht "Postimees"-Chefredakteur Hussar denn auch Bilanz. Als eines der Beispiele führt er seine Zeitung an. Sie wird im Juni 160 Jahre alt. Dies alles mündete im 19. Jahrhundert in die Entwicklung eines eigenen Nationalbewusstseins. Burghardt findet: "Die junge estnische Bewegung war nicht anti-christlich, aber anti-kirchlich."
Selbst die Singebewegung als das nationale Heiligtum der Esten wäre wohl ohne die Reformationsideen von Martin Luther in seiner heutigen Form gar nicht denkbar. Zwar reichen die Wurzeln bis in vorchristliche Zeit zurück. Doch das organisierte Singen lernten die Menschen in den Chören ihrer im Grunde genommen verhassten Kirchengemeinden.