Ignacy Golik wird am 19. Januar 1922 im polnischen Warschau geboren. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Warschau am 28. September 1939 ändert sich Goliks Leben schlagartig. Weite Teile der Bevölkerung leisten entschiedenen Widerstand gegen den Terror der Besatzer: Sie gründen Untergrundschulen, sabotieren die Bestrebungen der Deutschen, wo sie nur können, und verüben Attentate. Durch seine älteren Brüder Paul und Vincent kommt Ignacy Golik mit den Widerstandskämpfern in Kontakt und er entschließt sich, Teil der Bewegung zu werden. Da er sich mit militärischer Kampfesführung nicht auskennt, hilft er stattdessen Flugblätter und Broschüren gegen die Nationalsozialisten zu erstellen, zu drucken und zu verteilen.
Als Golik im Januar 1941 zusammen mit einem seiner Brüdern und seiner Schwägerin von der Gestapo verhaftet wird, fürchtet er schon, aufgeflogen zu sein. Doch der Verhaftungsgrund lautet "nationalbewusster Pole". Drei Wochen lang hält man ihn im Pawiak-Gefängnis fest, einem Untersuchungsgefängnis für politische Häftlinge. Von dort aus deportieren ihn die Deutschen in das noch nicht mal ein Jahr alte Konzentrationslager Auschwitz.
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"Als ich im KZ ankam, dachte ich noch: 'Ignacy, du bist doch ein Warschauer Schlitzohr, ein Schlawiner, du wirst schon klarkommen'", erinnert sich Golik. Plötzlich streckt er seinen über 90 Jahre alten Körper, strafft die Schultern, hebt den Kopf und zischt in einem scharfen Ton: "Ihr seid hier in einem deutschen Konzentrationslager. Der Eingang führt durch das Haupttor, aber raus geht’s nur durch den Schornstein. Für solche Feinde des Deutschen Reiches wie ihr es seid, werden wir Deutschen kein Erbarmen haben." Seine Imitation der Begrüßung des Lagerführers Fritzsch ist beängstigend. Fritzsch habe ihnen prophezeit, dass Juden einen Monat und alle anderen höchstens sechs Monate in Auschwitz überleben werden, bevor sie ins Krematorium kommen. Damals, als 19-Jähriger, habe er diese Worte jedoch nicht ernst genommen: "Ich dachte, dass er uns nur erschrecken will. Der erzählt doch nur dumme Geschichten, habe ich geglaubt." Doch Golik wird eines besseren belehrt. Zwischen den 592 Häftlingen aus dem Pawiak-Gefängnis sind auch zwei polnische Juden, an denen die SS sofort ein Exempel statuiert. "Sie haben mit Knüppeln auf sie eingeprügelt, bis sie tot waren. Am Ende hat sich einer der beiden aber noch bewegt und so haben sie einen Kreuzhackenstiel genommen und den Mann damit erwürgt", erzählt Golik. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Die Gestapo hat auch in seine Häftlingskarteikarte zwei Buchstaben eintragen lassen, die alle Hoffnungen auf eine Entlassung aus dem Lager zunichtemachen. "RU stand bei mir – Rückkehr unerwünscht."
Im Lager bekommt Ignacy Golik die Nummer 9.898 und wird zuerst im Quarantäneblock untergebracht. Danach arbeitet er im Rollwagenkommando, Zonenbaukommando und in verschiedenen Außenkommandos. Für Golik ist die Arbeit zur Befestigung des Flussufers der Sola und der Weichsel nicht so schwer wie für einige andere aus seinem Kommando. "Wir waren noch nicht in so einem Zustand wie die anderen, die schon mehrere Monate dort lebten. Das waren Skelette, die sich langsam bewegten", erinnert er sich. Außerdem hat die polnische Bevölkerung das Leid der Häftlinge gesehen und trotz der eigenen Armut versucht zu helfen. Am Ufer verstecken sie kleine Brotstücke, Kartoffelschalen oder was sie sonst noch hatten. "Und einige SS-Leute", sagt Golik, "haben tatsächlich weggeguckt, haben beide Augen zugedrückt, wenn wir etwas gefunden haben". Andere hingegen hätten die Pakete in die Weichsel geworfen.
Zu dieser Zeit denkt Golik häufig darüber nach zu fliehen. Durch seinen Einsatz im Außenkommando hat er eigentlich die besten Bedingungen, die man als Auschwitz-Häftling haben kann: er befindet sich schon außerhalb des Lagers, nur vergleichsweise wenige SS-Männer bewachen das Außenkommando und er könnte sich im Wald verstecken. Dass er die Flucht am Ende doch nicht wagt, liegt am Bestrafungs- und Abschreckungssystem der Nazis. "Sofort nach der gelungen Flucht ist die Familie des Häftlings, die noch in Freiheit war, verhaftet und nach Auschwitz deportiert worden", erinnert sich Golik. Doch nicht nur das mögliche Schicksal seiner Angehörigen habe ihn zurückgehalten, auch die Konsequenzen für seine Mithäftlinge. "Jeder wusste: wenn ich durchkomme, sterben zehn andere. Die wären zum Hungertod verurteilt worden", so Golik.
Hatte er vorher in der Schule noch Gedichte von Goethe, Schiller und Heine auf Deutsch auswendig gelernt, so sind seine Lehrmeister jetzt SS-Männer mit Stöcken und Gewähren und statt großer Dichtkunst lernt er Redewendungen wie 'Halt die Fresse' oder 'Du kriegst was auf's Maul'. Goliks Deutschkenntnisse bewahren ihn davor, bis aufs Blut verprügelt zu werden. So zwingen die SS-Männer die Häftlinge regelmäßig, deutsche Volkslieder zu singen. "Lore, Lore, schön sind die Mädchen von 17,18 Jahr" ist eines der Lieder, an das Golik sich erinnert. Die Häftlinge jedoch, die kein Deutsch können, singen "schön sind die Mädchen von 70, 80 Jahr". "Und die SS-Leute glaubten, dass sich die Gefangenen über sie lustig machten und prügelten sie halbtot", erzählt Golik.
Dank seiner Deutschkenntnisse steigt Golik in der Häftlingshierarchie des Lagers auf. Zeitweise arbeitet er in der Küche und kann sich relativ frei im Lager bewegen. "Da beobachtete ich die ganze Mordindustrie." Bei seinen Streifzügen wird er im März 1941 Zeuge von Massenerschießungen von 200 bis 300 Menschen an der Kiesgrube vor den Toren des Stammlagers. "Weil bei diesen Massenerschießungen manchmal Soldaten in Ohnmacht fielen, wurden sie im September 1941 eingestellt", erinnert sich Golik. Von da an sucht die SS nach einer für ihre Leute "psychisch weniger belastenden" Massentötungsmethode – schon im Herbst finden die ersten "Probevergasungen" mit Zyklon B statt.
Einzelne Häftlingsgruppen werden jedoch weiterhin erschossen – nur nicht mehr öffentlich, sondern im Innenhof des Lagergefängnisses (Block 11). "Dort hat die SS die Gefangenen durch einen Genickschuss mit einer Kleinkaliberwaffe ermordet", so Golik. Er erinnere sich noch genau daran, dass nach dem Verstummen der Schüsse das sonst immer verriegelte Tor des Innenhofs aufgegangen sei und ausgezehrte Häftlinge einen Rollwagen beladen mit Bergen toter Menschenleiber zum Krematorium gezogen und eine Blutspur durchs ganze Lager hinterlassen hätten. Auch Golik droht der Tod, als er dabei erwischt wird, wie er beim Küchendienst einen Würfel Margarine stiehlt. Doch weil seine Mithäftlinge den Rapportführer mit mehreren Kilo Wurst und einem Kilo Butter bestechen, wird das Urteil nicht vollstreckt. "Mein Kollege gab mir die Meldung, die mein Todesurteil gewesen wäre, und sagte: 'Zerreiß sie.' Und ich habe sie vernichtet."
Im Herbst 1942 wird Golik zum Arbeitsdienst ins Kommando-SS-Revier versetzt. Im SS-Revier wird das SS-Personal allgemeinmedizinisch und zahnärztlich versorgt, dort befindet sich die SS-Apotheke und zur Anfangszeit ist auch noch die Politische Abteilung im Erdgeschoss untergebracht. Golik ist hin- und hergerissen, ob die Versetzung gut oder schlecht für ihn ist: "Ich konnte im Warmen arbeiten, ich konnte mich waschen, was gut für meine Gesundheit war, und ich wurde nur geschimpft, aber nicht geschlagen. Aber ich hatte ganz fürchterlichen Hunger", sagt Golik. Ihm fehlen das Brot und die Kartoffelschalen, die er im Außenkommando in den Büschen gefunden hat. "Ich habe mir wieder und wieder gesagt: 'Nein Ignacy, geh da nicht wieder hin, da spielen sie mit der Mütze'." Das Spiel mit der Mütze ist eine beliebte Beschäftigung unter der SS-Wachmannschaft: Sie rufen einen Häftling zu sich, reißen ihm die Mütze vom Kopf, werfen sie hinter die Postenkette in die Büsche und befehlen dem Häftling, sie wiederzuholen. "Der Häftling wusste schon, dass er dann erschossen wird, aber er lief dann trotzdem los und der SS-Mann schoss ihn in den Rücken. Und als Dank dafür, dass er einen Fluchtversuch verhindert hat, bekam er bis zu drei Tagen 'Sonderurlaub'", berichtet Golik angewidert. Dieses tödliche "Spiel" mit der Mütze sei dann zwar offiziell verboten worden, "aber die SS-Männer konnten ja doch machen, was sie wollten".
Die Arbeit im SS-Revier ist physisch sicherer, psychisch jedoch eine große Belastung für den damals 20-Jährigen. Als Stiefelputzer und Reiniger im Revier ist er auch für die dort wohnenden SS-Unterscharführer zuständig. "Ich habe unter anderem für die beiden brutalsten Verbrecher in ganz Auschwitz gearbeitet - Kriminalrat Woznica und Boger", erinnert er sich. Im Lager ist Wilhelm Boger, der in der "Politischen Abteilung – Referat Flucht, Diebstahl und Fahndung" arbeitet, auch als der "Teufel von Auschwitz" oder die "Bestie von Auschwitz" bekannt. Boger setzt für seine Verhöre brutale Foltermethoden wie die sogenannte "Boger-Schaukel" ein, die er selbst als "Sprechmaschine" bezeichnet: dabei wird der Häftling kopfüber an einer Stange aufgehängt und die Handgelenke vor dem Schienbein, an die Fußgelenke oder an die Stange gefesselt. Ist der Häftling in Position, verhört Boger ihn – und bekommt er nicht die gewünschten Antworten, schlägt er mit dem Stock, dem Knüppel oder der Peitschen zu, bis der Häftling auf der Stange "schaukelt". Er zielt bevorzugt auf die Geschlechtsteile, misshandelt die Häftlinge bis sie bluten und ihre Schmerzensschreie bis auf die Straße zu hören sind. Und diese Folter wiederholt er alle zwei bis drei Tage beim gleichen Häftling – solange, bis er zufrieden ist. "Ich habe oft gesehen, wie man aus dem Zimmer von Boger die geschlagenen Menschen herausgetragen hat", gibt Ignacy Golik am 8. Juni 1964 im Auschwitz-Prozess zu Protokoll. Einmal habe ihn Boger gerufen, um sein Zimmer zu desinfizieren, "weil ein Häftling, den man ein paar Minuten vorher besinnungslos aus dem Zimmer herausgeholt hat, angeblich Flöhe hatte".
Im Winter 1942 wird Golik zufällig Zeuge einer Vergasung. Aus dem Fenster des SS-Reviers beobachtet er, wie unter starker Bewachung der SS eine Gruppe von rund 200 Häftlingen aus Birkenau ins Alte Krematorium gebracht wird. Es sind Häftlinge des sogenannten "Sonderkommandos", die in Birkenau in den Krematorien zur Sklavenarbeit gezwungen wurden und jetzt als lästige Zeugen beseitigt werden sollen. "Die Häftlinge bekamen einen Befehl, sich auszukleiden. Da es Menschen waren, die selbst in Krematorien beschäftigt waren, wussten sie ganz genau, was bevorsteht. Deswegen haben sie abgelehnt, das zu tun. Da fingen die SS-Männer an, diese Menschen zu schlagen", schildert Golik. Die Häftlinge des "Sonderkommandos" werden zum Gehorchen geprügelt und in den Leichenkeller des Alten Krematoriums getrieben, der als Gaskammer fungiert. "Dann stiegen die Männer aus der Gruppe von Klehr auf das Dach des Krematoriums und näherten sich den vier bestimmten Löchern auf dem Dach. Die SS-Männer öffneten die mitgebrachten Dosen mit dem Zyklon B und warfen den Inhalt dieser Dosen in die Öffnung hinein", fährt Golik fort. Klehr sei dann mehrfach mit dem Motorrad ums Alte Krematorium gefahren. "Es ist nämlich so: Die Leute, die vergast werden, schreien ganz schrecklich. Und ihre Schreie sollte niemand im Lager hören."
Bei den "Männern der Gruppe Klehr" handelt es sich um Angehörige des Kommandos Desinfektion, den sogenannten Desinfektoren, die auch in Birkenau unter Aufsicht des diensthabenden SS-Arztes die Vergasungen durchführen. "Soweit ich mich erinnere, fuhr die Gruppe von Klehr häufig nach Birkenau, wo die Vergasung der Juden aus Ungarn und Frankreich durchgeführt wurde", sagt Golik. Wenn der Sanka (Sanitätskraftwagen) vorfährt, die Desinfektoren das Zyklon B einladen und der Arzt auf dem Beifahrersitzt Platz nimmt, weiß Golik: "Heute findet wieder ein Massenmord statt." Als Belohnung für ihre Arbeit müssen Golik und die anderen Häftlinge des SS-Reviers den Desinfektoren nach jeder Vergasung die Zusatzverpflegung bringen: Ein Päckchen Zigaretten und ein Fünftel einer Flasche Jamaika-Rum. So wissen die Häftlinge vom ungefähren Ausmaß des Massenmords in Birkenau, obwohl sie das Lager selbst nie betreten.
Ende 1943 avanciert Golik zum Kapo des Arbeitskommandos SS-Revier, eine Position, die ihm mehr Bewegungsfreiheit innerhalb seines Arbeitsbereichs ermöglicht. Während seiner Zeit dort lernt er auch die SS-Apotheke kennen, in der Medikamente für die Behandlung der SS-Angehörigen und der Lagerinsassen aufbewahrt werden. Aber nicht nur die. "Die Apotheke in Auschwitz, das war die merkwürdigste Apotheke der Welt", sagt Golik im Prozess gegen das medizinische Personal von Auschwitz aus. "Das war keine Apotheke, in der hauptsächlich die Medikamente aufbewahrt wurden, die zum Heilen der Menschheit bestimmt sind. Sondern in erster Linie hat man dort die Gegenstände aufbewahrt, die zur Vernichtung der Menschen bestimmt waren." Das Phenol, das SS-Ärzte kranken Häftlingen ins Herz spritzten, um sie zu töten, lagert dort genauso wie vorrübergehend das Zyklon B für die Vergasung.
"Nach der Vergasung brachten die SS-Männer oft irgendwelche Sachen aus Birkenau mit", erinnert er sich. "Das waren Gegenstände, die den Personen, die vergast wurden, gehörten. Das waren Sachen, die den Hebammen, Ärzten, Sanitätern und dem Personal des Gesundheitsdienstes gehörten." Golik und andere Häftlinge sind dabei, wenn diese Habseligkeiten der Ermordeten von der SS untersucht werden. Und obwohl es gegen ihr Ehrgefühl geht, Tote zu bestehlen, tun sie es trotzdem. Sie stehlen die Medikamente, um den Mithäftlingen im Krankenbau eine Chance zum Überleben zu geben. "Es entstand eine ganze Organisation der Hilfe für die Häftlinge auf diesem Gebiet", so Golik und fährt fast schon ein bisschen stolz fort, "wir haben die Medikamente nicht nur ins Stammlager geschmuggelt, sondern auch nach Birkenau und in die Unterlager." Das gelingt vor allem durch die Bestechung einzelner SS-Angehörige mit Goldgegenständen oder Dollar, die die Gefangenen ebenfalls heimlich haben mitgehen lassen. Die Häftlinge gehen ein unfassbar hohes Risiko ein, um ihren Mithäftlingen zu helfen. Denn jedem von ihnen ist klar, dass, sollten sie dabei erwischt werden, ihnen der Tod wie eine Gnade vorkommen würde, wenn Boger und Konsorten mit ihnen fertig sind.
Im November 1944 wird Ignacy Golik wegen der immer näherrückenden Front aus dem Stammlager ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin verlegt und dann weiter nach Barth, in ein Nebenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, verschleppt. Als Zwangsarbeiter wird er in der Rüstungsindustrie eingesetzt und muss am Fließband des Flugzeugherstellers Heinkel arbeiten. Lebensbedrohlich sei ausnahmsweise nicht die Unberechenbarkeit der Aufseher gewesen, die sich wegen der Zivilisten in der Fabrik benehmen mussten, sondern der Hunger. Der 23-Jährige wiegt bei einer Körpergröße von 1,76m nur noch 42 Kilogramm.
Ignacy Golik überlebt einen Todesmarsch und wird in der Nähe von Rostock schließlich von sowjetischen Truppen befreit. Teilweise in Güterwagons, teilweise zu Fuß macht er sich auf den Rückweg in seine Heimatstadt Warschau, die von den Deutschen komplett zerstört worden war – ausgelöscht wie auch Goliks Familie. Einer seiner Brüder war bereits 1941 in Auschwitz erschossen worden, der andere starb 1944 im KZ Sachsenhausen. "Ich hatte keine Zeit zu verzweifeln. Meine Heimatstadt Warschau existierte nicht mehr. Ich war 24 Jahre alt und ohne Schulabschluss. Ich habe den Blick auf die Zukunft gerichtet", erklärt Golik. Er holt das Abitur nach, doch aus seinem Wunsch, an eine Technische Hochschule zu gehen und Elektroningenieur zu werden, wird nichts: in den Lagern hat er die ganze Mathematik und Geometrie vergessen und so zerplatzt sein Berufswunsch wie eine Seifenblase. "Es kursierte damals das Sprichwort in Polen, 'ein Journalist ist jemand, der nichts weiß, aber alles erklären kann'. Also bin ich Journalist geworden", sagt Golik selbstironisch. Seinen Kollegen bei der Zeitung verschweigt er, dass er jahrelang in Auschwitz inhaftiert war, er will nicht über das Erlebte sprechen. "Ich wollte das einfach nur vergessen", sagt er heute.
Doch man lässt ihn nicht. Sein bester Freund in Auschwitz, Hermann Langbein, ein Widerstandskämpfer aus Wien, der im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hatte, besucht ihn in Warschau, um ihn davon zu überzeugen, vor Gericht auszusagen. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Fritz Bauer hat Langbein, der selbst aussagen wird, darum gebeten, Zeugen für den Prozess zu finden. Nach einer Stunde Überzeugungsarbeit durch seinen ehemaligen Mithäftling ist Golik dann doch zur Aussage bereit. "Er hat mir gesagt: 'Du erinnerst dich und jetzt ist es deine Pflicht, der Welt zu sagen wie es war.'"
Doch die Sache mit der Ausreisegenehmigung und dem Pass gestaltet sich schwierig, erst durch die Verbindungen seines Chefredakteurs bekommt Golik die Genehmigung. 1958 reist er dann als erster polnischer Zeuge für die deutschen Verbrechen in den Konzentrationslagern nach Deutschland, kommt Anfang der 1960er für weitere Befragungen zurück. "Fritz Bauer sagte damals zu mir: 'Herr Zeuge Golik, es interessiert uns nicht, was sie über Auschwitz wissen. Wir sind kein bisschen daran interessiert. Wir interessieren uns nur für das, was sie persönlich gesehen oder erlebt haben'", erinnert sich Golik. Man habe ihm drei Tage lang rund 500 Bilder von SS-Leuten aus Auschwitz gezeigt, die er auf drei Stapel verteilen sollte: unbekannte Gesichter, bekannte Gesichter und Menschen, zu denen er etwas zu sagen habe. In die letzte Kategorie fallen 50 Fotos. "Ich bin einer der wenigen Augenzeugen, der gesehen hat, wie die Deutschen von der sogenannten 'Handwerkermethode' dazu übergegangen sind, Menschen industriell zu ermorden", so Golik. Deswegen sagt er auch in Polen in ähnlichen Prozessen aus, wo die Bestrafungen damals deutlich härter sind als in Deutschland. "Nach unserer Meinung damals hätte jeder zweimal gehenkt gehört", sagt Golik. Heute denkt er da anders: "Erinnern ja, aber bestrafen? Was soll das heute noch bringen?"
Bis 1998 arbeitet Golik als Journalist. Regelmäßig spricht er als Zeitzeuge vor Schulklassen und anderen Gruppen über seine schrecklichen Erlebnisse. Ob er die Deutschen hasst, wird er dann oft gefragt. Seine Antwort ist immer gleich: "Aber wie könnte ich? Viele, mit denen ich in Auschwitz war, waren ja selbst Deutsche." Ignacy Golik ist heute zu stark, um noch Hass, Verachtung oder Verbitterung zu spüren.
Die Begegnung mit den Zeitzeugen wurde durch das Journalisten-Programm des Maximilian-Kolbe-Werks ermöglicht, an dem die Autorin 2015 teilgenommen hat. Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Um die Arbeit zu unterstützen, können Sie entweder online spenden oder das Geld auf folgendes Konto überweisen:
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