"Ich habe es nie bereut, diese Plakate aufgehängt zu haben", sagt Vasyl Volodko mit fester Stimme, um keinen Zweifel zu lassen, dass er seine Worte tatsächlich ernst meint. Er, der mit 16 Jahren beim Überfall auf die Sowjetunion durch die Nationalsozialisten im Sommer 1941 zu klein für die Rote Armee ist und der sich stattdessen in der Untergrundorganisation des "Kommunistischen Jugendbundes" engagiert. Zwei Jahre lang verteilt der Ukrainer antifaschistische Flugblätter und Plakate. Doch am 8. Juni 1943 wird der damals 18-Jährige während einer dieser Aktionen von der Polizei festgenommen und in einem Viehwaggon ins Saarland deportiert.
Dort muss er unter Tage Zwangsarbeit leisten und die abgebaute Kohle verladen. "Ich bekam die Nummer 421", erinnert sich Volodko mit strengem, ernstem Gesichtsausdruck. Es ist die erste von vielen Nummern, die in den folgenden zwei Jahren seinen Namen ersetzen soll. Trotz der körperlich schweren Arbeit erlischt Volodkos Kampfgeist nicht: er schließt sich einer Widerstandsbewegung im Lager an, die mehrmals versucht, den Kohleabbau zu sabotieren. "Die Versuche scheiterten, bis wir uns entschlossen haben, etwas richtig Wirkungsvolles zu tun", so Volodko. Als "richtig wirkungsvoll" erweist sich die Sabotage der Holzstützen: Der Stollen stürzt ein und die Arbeiten müssen für drei Tage gestoppt werden. Volodko und zwei andere Häftlinge nutzen die Gelegenheit, um nach Frankreich zu fliehen – jedoch vergeblich. "Sie haben uns wieder gefangen und ich habe 25 Schläge bekommen. Ich war froh, dass sie mich nicht sofort erschossen haben", erinnert sich der Ukrainer, dessen Gesicht von tiefen Falten gezeichnet ist.
Doch die Freude, dem Henker noch einmal entkommen zu sein, hält nicht lange: im Mai 1944 wird Vasyl Volodko ins Gestapo-Gefängnis "Neue Bremm" in Saarbrücken gebracht. Es ist ein kleines Lager, die Baracken stehen parallel zum doppelreihigen, elektrischen Stacheldraht und von einem mit Scheinwerfern und Maschinengewehren besetzten Wachturm aus wird das gesamte Areal kontrolliert. "In den ersten zwei Tagen war ich im Untersuchungsgefängnis. Es war eine ganz kleine Zelle: 50cmx60cm und zwei Meter hoch. Man konnte nicht sitzen, nicht liegen, es war eigentlich jede Bewegung unmöglich", erinnert sich Volodko mit Schaudern. Solch ein Aufenthalt in einem "Stehbunker" zählt in den Lagern der Nationalsozialisten zu den beliebten Foltermethoden, da kein Personal benötigt wird und die Wirkung effektiv ist: Eingepfercht in einem dunklen, schornsteinartigen "Raum", der kleiner ist als das Papier einer Flipchart, in dem die Häftlinge hungern, in dem sie durch das lange Stehen unvorstellbare Schmerzen haben, dem Erstickungstod nahe kommen, in dem sie durch ihren eigenen Kot und Urin Verätzungen erleiden, werden einige sogar wahnsinnig, die meisten kommen aber zumindest gebrochen wieder heraus. Das ist ganz im Sinn der Folterknechte der SS.
Nach seinem "Aufenthalt" im "Stehbunker" muss Volodko am "Lageralltag" teilnehmen. Mittelpunkt des Gestapo-Lagers "Neue Bremm" ist der Löschteich, der Ort grausamster Folter und Mord, den die Gestapo-Leute nur euphemistisch als "Lagersport" bezeichnen. "Vom Morgengrauen bis zur Nacht wurden wir, die wir schwach und am Verhungern waren, von den Deutschen dazu gezwungen, unter den ständigen Schlägen unserer Bewacher im Laufschritt oder im sogenannten "Entengang" rund um den Löschteich zu laufen", so Volodko. "Mal mussten wir die Arme in die Luft recken, mal vorm Körper ausstrecken oder im Nacken verschränken. Einzelnen Häftlingen wurden mit Backsteinen gefüllte Säcke umgehängt, die ihnen jede Bewegung erschwerten und trotzdem mussten sie weiter springen."
Und die brutale, grausame Kreativität der Aufseher kennt keine Grenzen, immer wieder ordnen sie neue "Leibesübungen" an: beim "Kröten- oder Froschhüpfen" müssen die Gefangenen zusammengekrümmt vorwärts springen, sie müssen durch den Schlamm kriechen und wenn der Oberaufseher der Meinung ist, ein Häftling sei mit dem Bauch nicht nah genug auf der Erde, steigt er mit Vergnügen mit seinen Stiefeln auf den Rücken des Häftlings, um ihn tiefer in den Schlamm zu drücken und dabei vielleicht noch ein paar Knochen zu brechen. Doch auch das Überleben dieser Tortur ist gefährlich: wenn am Ende des Tages niemand den Aufsehern den Gefallen getan hat und daran gestorben ist, wählen sie willkürlich einen Häftling aus und ertränken ihn im Löschteich. So kann selbst das Überleben tödlich enden.
"Es war die Hölle"
Das Wort "Essen" wird für Volodko im Gestapo-Lager zum Fremdwort. "Ich musste von 80 Gramm Brot am Tag überleben, da gab es selbst in den Konzentrationslagern mehr", erinnert er sich. Morgens bekommt er eine Scheibe Brot zu essen, mittags eine widerlich riechende Suppe, die aus warmen Wasser und einigen Kohlblättern oder Gras besteht, und abends nochmal eine Scheibe Brot oder Reste der Mittagssuppe. Die Nahrungsrationen für die Häftlinge sind so gering, dass viele Gefangene binnen weniger Wochen 30 bis 40 Kilogramm Gewicht verlieren. Wer jedoch vor Erschöpfung zusammenbricht oder krank wird, wird bis zur Bewusstlosigkeit mit Gummischläuchen, Peitschen, Holzknüppeln oder Ochsenziemern traktiert und danach oft in den Löschteich geworfen. Die Häftlinge, die zu dem Zeitpunkt noch nicht gestorben waren und wieder auftauchten, wurden mit Holzstangen immer wieder unter Wasser gedrückt.
"Es war die Hölle", sagt Volodko mit zitternder Stimme, die Erinnerungen an das Erlittene schnürt ihm fast die Kehle zu. Anderthalb Monate lang ist er den menschenunwürdigen Haftbedingungen und der grausamen Folter ausgesetzt, die ihn fürs Leben gezeichnet und seine Gesundheit ruiniert haben. Am 14. Juni 1944 wird der damals 19-Jährige schließlich ins Konzentrationslager Natzweiler verlegt wird. "Dort bekam ich die Nummer 17.191 und wurde dann sehr schnell in eines der Außenlager verlegt."
Dort muss Vasyl Volodko als Zwangsarbeiter in Tunneln arbeiten, in die die Rüstungsindustrie aufgrund der alliierten Bombenangriffe verlegt worden war. "Wir mussten fast die ganze Zeit im Wasser arbeiten, das Wasser stand uns bis zu den Knien. Natürlich sind meine Beine gleich dick geworden. Alle Geschwüre waren wieder offen", sagt Volodko. Er hat Glück und wird trotz seiner Arbeitsunfähigkeit nicht ermordet, sondern ins Hauptlager zur Genesung geschickt. Als er jedoch wieder transportfähig ist, wird er ins nächste Außenlager deportiert, wo er bei Wind und Wetter Schiefergestein verarbeiten muss, was ihn schnell wieder krank macht. Mit dem Näherrücken der Front – einem Monat vor der Befreiung des Konzentrationslagers Natzweiler – wird Volodko im Oktober 1944 mit einem "Evakuierungstransport" ins Konzentrationslager Dachau gebracht. "Das, was mir am schrecklichsten in Erinnerung geblieben ist, geschah bei der Verladung: Als ein Häftling nicht mehr in die Wagons gehen konnte und gestürzt am Boden lag, kam ein SS-Mann, sprang ihm auf die Brust mit seinen Stiefeln und zertrampelte ihn regelrecht. Da kam aus dem Mund des Häftlings Blut und er war tot."
In Dachau kommt Volodko zuerst aufs Krankenrevier und danach in den Block 23, den sogenannten Quarantäneblock des Konzentrationslagers. Aber auch dort ist er nicht sicher vor den Schikanen der SS. Einmal im Monat zwingen die SS-Leute Volodko und die anderen Häftlinge zur Desinfektion ins Bad – was auf den ersten Blick wie eine gute Tat erscheint, entpuppt sich jedoch schnell als eine weitere Grausamkeit. "Es war völlig egal, ob es kalt war - wir mussten nackt zurück in die Baracken laufen. Und bis zum nächsten Morgen mussten wir nackt in der Baracke bleiben und wir zitterten vor Kälte."
Der 20-Jährige ist krank und abgemagert, als die SS-Ärzte eine Selektion im Quarantäneblock anordnen. "Die Häftlinge standen in Reih und Glied, dann kam ein SS-Arzt und guckte, wer noch arbeitsfähig ist und wer arbeitsunfähig ist. Und ich wurde als arbeitsunfähig ausgewählt", erzählt Volodko stockend. In einem Konzentrationslager bei der Selektion als arbeitsunfähig ausgewählt zu werden, bedeutete eigentlich den sicheren Tod. Einem Zustand, den Volodko sowieso schon sehr nahe war: "Ich war ein sogenannter Muselmann, ich war ein Skelett, das nur aus Knochen und Haut bestand." Als "Muselmann" wurden in der Lagersprache die Menschen bezeichnet, die sich im letzten Stadium des Hungertodes befanden: Sie waren nur noch Haut und Gerippe, hatten angeschwollene Beine, aufgeblähte Bäuche. Sie waren abgestumpft, apathisch – sie kümmerten sich nicht mehr um persönliche Hygiene und verwahrlosten in schmutzigen Lumpen. Muselmänner glichen wandelnde Leichen, die sich auf der Grenze zwischen Leben und Krematorium befanden.
Vasyl Volodko wird nach der Selektion in den Block 25 verlegt – ein Vorhof des Todes in Dachau. "Das war ein Block, in dem die Menschen warten, bis sie dann ins Krematorium kamen." Doch weil das Krematorium in Dachau nicht so viele Leichen verbrennen kann, wie jeden Tag Häftlinge an der grassierenden Typhus- oder Fleckfieber-Epidemie sterben, bleibt Volodko ungewöhnlich lange in diesem Block. Was er dort sieht, ist für ihn auch heute noch schwer in Worte zu fassen. "Gewöhnlich wurde jeden Morgen ein Appell abgehalten, wo wir aufgezählt wurden. Morgens wurden bis zu 40 Leichen aus den Baracken rausgebracht. Und wer nicht zum Appell gehen konnte, zu dem kam ein SS-Arzt in die Baracke. Der Arzt hat die Menschen mit einer Spritze getötet", erinnert sich Volodko.
Nachts um elf Uhr, am 26. April 1945, wird er zusammen mit rund 4.000 anderen Häftlingen aus der Sowjetunion, 3.000 Juden und ungefähr 3.000 politischen Gefangen von der SS aus den Baracken geholt und auf einen Todesmarsch Richtung Alpen getrieben. "Wir bekamen einige Tage lang nichts zu trinken und nichts zu essen. Und schon bald blieb aus dieser Gruppe nur circa die Hälfte am Leben", so Volodko. Er beobachtet, wie die SS Häftlinge, die zu fliehen versuchen oder zu schwach zum Weitermarschieren sind, auf offener Straße erschießt und den Leichnam einfach liegen lässt. "Ich war auch sehr erschöpft, sehr schwach und da bin ich mitten in einer Ortschaft hingefallen", erzählt der Ukrainer, "und ich konnte mich nicht wieder aufrichten. Da sprang ein SS-Mann zu mir und rief: ‘Auf, Auf, Aufstehen‘ – aber ich konnte nicht aufstehen." Bis heute weiß Vasyl Volodko nicht mit Sicherheit, weshalb ihn der SS-Mann damals nicht einfach in den Kopf geschossen hat, so wie er es vorher schon hunderte Mal gesehen hat. Vielleicht habe es daran gelegen, dass sie sich in einer Ortschaft befunden haben und der SS-Mann Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Anwohner nehmen wollte. Statt ihm also eine Kugel in dem Kopf zu jagen, schlägt ihm der SS-Mann "nur" mit voller Wucht mit dem Gewehrkolben auf den Kopf. Bewusstlos bleibt Volodko auf der Straße liegen, vermutlich hält ihn der SS-Mann für tot. "Und als ich zu mir kam, waren schon die Amerikaner um mich herum", erinnert sich Volodko an den Moment seiner Befreiung, den er damals wegen der starken Schmerzen gar nicht bewusst wahrnehmen konnte. "Erst im Krankenhaus, als ich wieder so richtig zu Bewusstsein kam, da habe ich verstanden: Ja, ich werde weiterleben. Und dann kam die Freude."
Im Krankenhaus erholt sich der damals 20-jährige Ukrainer zumindest körperlich langsam von Gräueltaten der Nazis. Doch der Ort, an dem er sich erholt, wird von den Amerikanern an die Sowjets übergeben und so findet sich Volodko plötzlich auf einem LKW wieder, der ihn nach Frankfurt/Oder bringt, wo er von sowjetischen Militärangehörigen verhört wird. Deren Entscheidung ist eindeutig: Wegen einer Herzkrankheit und weil er nicht richtig laufen kann, muss Volodko nicht zur Roten Armee und wird auch nicht wie viele andere nach Sibirien deportiert. Doch man gibt ihm eine Warnung mit auf den Weg in die Heimat: "Mir wurde gesagt: Das, was Sie erlebt haben, das, was da geschah, erzählen Sie nicht. Wenn wir Sie brauchen, wenn wir Sie wieder befragen wollen, wir werden Sie finden – egal, wo Sie sich aufhalten werden."
Und das passiert tatsächlich schon wenige Jahre später. Volodko ist gerade im zweiten Studienjahr, als Militärangehörige ihn "besuchen". Er soll zu Propagandazwecken einen Brief an die zahlreichen ehemaligen sowjetischen Häftlinge schreiben, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben und nicht wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. "Ich sollte schreiben, dass mir überhaupt nichts geschehen ist, dass ich nicht verfolgt werde und sogar studieren kann." Ob er den Brief tatsächlich geschrieben hat, möchte Vasyl Volodko nicht sagen.
Auch nach all den Jahren fällt es ihm schwer, über das Erlebte zu sprechen. Jahrzehntelange hat er geschwiegen, erst aus Angst, dann, weil sich niemand für seine Geschichte interessiert hat. "Ich habe eine Tochter, aber sie will das nicht hören. Vor allem junge Menschen bei uns in der Ukraine wollen das nicht hören, sie sind nicht so interessiert", sagt er. Das sei in Deutschland ganz anders, da seien viele junge Leute an seiner Lebensgeschichte und diesen Geschichten im Allgemeinen interessiert. Und das ist wichtig für ihn, denn Vasyl Volodko will Zeugnis ablegen über sein Schicksal, solange er noch kann.
Die Begegnung mit den Zeitzeugen wurde durch das Journalisten-Programm des Maximilian-Kolbe-Werks ermöglicht, an dem die Autorin 2015 teilgenommen hat. Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Um die Arbeit zu unterstützen, können Sie entweder online spenden oder das Geld auf folgendes Konto überweisen:
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