Leszek Stanowski hält die Hand hoch.
Foto: Tobias Schreiner
Leszek Stanowski ist 2015 zum Gedenktag der Befreiung nach Dachau zurückgekehrt.
"Wir wussten nicht, wohin wir fahren"
Leszek Stanowski aus Polen ist 17 Jahre alt, als er wegen des Warschauer Aufstands gefangenen genommen und ins Konzentrationslager Flossenbürg deportiert wird. Von da an beginnt ein ständiger Kampf ums Überleben. Hier ist seine Geschichte.

Andächtig sitzt Leszek Stanowski da und sucht nach Worten, um seine Erzählung zu beginnen. Dann lächelt er kurz, zuckt fast schon entschuldigen mit den Schulter und beginnt am Anfang: Mit seiner Geburt am 30. Januar 1927 im polnischen Posen. Er erzählt von seiner glücklichen Kindheit und dem jähen Ende der Unbeschwertheit, als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfällt und die Sowjetunion kurz darauf am 17. September Ostpolen besetzt. "Ich erinnere mich noch, dass ich zu meinem Vater damals gesagt habe: ‘Das ist wie das Messer im Rücken‘", sagt Stanowski.

Mit Kriegsbeginn unterbricht er seine Schullaufbahn. Wie viele andere polnische Bewohner des Warthegaus wird auch Stanowskis Familie ins neu geschaffene Generalgouvernement ausgesiedelt. Zuerst kommen die Stanowskis bei Verwandten in der Nähe von Warschau unter, dann ziehen sie direkt in den Warschauer Stadtteil Saska K?pa, der östlich der Weichsel liegt. Dort engagiert Stanowski sich im polnischen Widerstand und macht an einer Untergrundschule im März 1944 Abitur.

Am Warschauer Aufstand, der in den Stadtteilen westlich der Weichsel stattfinden, nimmt er jedoch nicht teil. "Ich hatte keine Verbindung zu dem anderen Teil Warschaus", so Stanowski, "weil die deutschen alle Brücken in Warschau in die Luft gesprengt hatten." Trotzdem wird auch in den östlichen Stadtteilen der Befehl ausgegeben, dass sich alle männlichen Bewohner ab dem zwölften Lebensjahr an einem zentralen Platz zu melden haben. "Das war in den letzten Tagen des August 1944 und es war ein heißer Sommer", erinnert sich Stanowski, der sich zusammen mit seinem Vater und seinem Schwager meldet. Stundenlang warten sie mit den anderen Männern darauf, dass etwas passiert. Viele, vor allem Ältere, leiden unter der extremen Hitze, fallen in Ohnmacht oder erleiden sogar einen Herzinfarkt. Die deutschen Besatzer interessiert das nicht.

Stanowski und seine Verwandten wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was ihnen bevorsteht. Sie haben keine Ahnung, dass auf den persönlichen Befehl Hitlers hin ganz Warschau geräumt und seine Bewohner in Arbeitslager deportiert werden sollen. Doch die erste Ahnung, dass sie so schnell nicht nach Hause zurückkehren werden, beschleicht Stanowski, als sie von Wehrmachtssoldaten und deren Hunden zum Bahnhof Warschau-Ost eskortiert werden und dort einen Zug besteigen müssen. "Der Zug fuhr über die letzte, sehr geschützte Eisenbahnbrücke nach Pruszków."

In Pruszków befindet sich zu dieser Zeit auf dem Gelände der verlassenen Eisenbahnwerkstätten an der Bahnlinie nach Skierniewice das "Durchgangslager 121". In neun mit Stacheldraht umzäunten Baracken werden zwischen August ’44 und Januar ‘45 insgesamt rund 650.000 Menschen festgehalten. In den Baracken herrschen katastrophale Bedingungen – Schmutz, Hunger und Überfüllung führen zur Ausbreitung von Seuchen. In diesem Lager, in dem die Menschen durchschnittlich nur wenige Tage inhaftiert werden, entscheidet sich das Schicksal der Gefangenen: Arbeitsunfähige schickte man an verschiedene Orte im Generalgouvernement, die übrigen wurden zur Zwangsarbeit ins "Dritte Reich" gebracht oder in Konzentrationslager deportiert. So ergeht es auch Leszek Stanowski und seinen Angehörigen: "Mein Vater, mein Schwager und ich sind dort getrennt worden. Mein Vater kam in ein Arbeitslager auf dem Gebiet des Generalgouvernements, mein Schwager nach Buchenwald und ich nach Flossenbürg. Nur damals wussten wir natürlich noch nicht, wohin wir fahren."

Das Konzentrationslager Flossenbürg (Bayern).

Die Ankunft im Konzentrationslager Flossenbürg verläuft wie in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten üblich: Die Häftlinge müssen ihren Besitz inklusive der Wertsachen abgeben, sich ausziehen, ins Bad gehen, dann werden sie geschoren und schließlich bekommen sie eine Nummer. "Der SS-Mann, der uns ins Lager führte, sagte uns, dass man dieses Lager nur durch den Schornstein verlässt", erinnert sich Stanowski. Doch er hat Glück und entkommt dem Krematorium, weil er als Beruf Elektriker angibt. "Wäre ich wie die anderen in den Steinbruch gekommen, hätte ich das vermutlich nicht überlebt. Mit 17 war ich eine relativ schmale, kleine Gestalt." Statt zwölf Stunden am Tag bei jedem im Steinbruch Granitblöcke zu schleppen, kommt Stanowski als Zwangsarbeiter in die Produktionshallen der Messerschmidt GmbH. Dort nietet er immer wochenweise zwölf Stunden tagsüber und zwölf Stunden nachts die Bleche für die Tragflächen des Jagdflugzeugs ME 109. "Im Dezember ‘44 gab es dann Lieferschwierigkeiten und die Arbeit wurde unterbrochen."

Was sich wie ein Glückfall anhört, weil es den Arbeitern eine kurze Verschnaufpause von der harten Arbeit verschafft, endet für Stanowski beinahe tödlich. Zusammen mit anderen Polen wird er im Januar 1945 nach Kamenz bei Dresden überstellt – ein Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Dort gibt es jedoch nur für zwei Tage Arbeit, da die Amerikaner die Zugstrecken bombardieren und die Deutschen so vom Materialnachschub abschneiden. Das Außenlager wird aufgelöst und Stanowski und die anderen 200 Häftlinge werden auf einen Todesmarsch Richtung Westen getrieben. Am ersten Tag schaffen die Häftlinge über 50 Kilometer, bis sie entkräftet Pause machen. Allen ist klar, dass sie ihr Ziel nicht lebend erreichen werden, wenn es so weitergeht. Doch dann erbarmt sich der befehlshabende SS-Mann und stellt an einer Bahnstation einen Zug zusammen, mit dem die Gefangenen weiter westwärts transportiert werden. "Der SS-Mann hatte wohl ein gutes Herz", sagt Stanowski nachdenklich, "denn so endete unser Todesmarsch eben nicht tödlich, weil es im Zug keine Schwächung der Häftlinge gab."

Leszek Stanowskis Überleben wird weiterhin vom Glück bestimmt – denn entgegen der eigentlichen Planung heißt die Endstation seines Zuges nicht Mauthausen. Der Kommandant des sowieso schon heillos überfüllten Lagers will keinen weiteren Häftlingstransport aufnehmen und schickt sie weiter. Die Gefangenen, denen das Blut bereits in den Adern gefroren war vor Angst, atmen auf, als sie "Mordhausen", wie das Lager in ihrem Sprachgebrauch heißt, wieder verlassen.

Als die Häftlinge bemerken, dass ihr Zug in Richtung München unterwegs ist, ahnen die Erfahrenen bereits, wo man sie hinbringt: nach Dachau. "In unserer Wahrnehmung und in dem, was wir darüber hörten, war Dachau eines der besseren Lager – sowohl in der Versorgung als auch in der Behandlung der Häftlinge", erinnert sich Stanowski und fügt nachdenklich hinzu: "In Dachau brauchte man nicht gar so viel Angst um sein Leben haben wie in den übrigen Lagern." Am 16. März 1945 erreicht der Transport tatsächlich Dachau.

Durch das Tor im Jourhaus mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" betraten die Häftlinge das Lager.

Im KZ Dachau bekommt Leszek Stanowski die Nummer 145.675, die sich "unauslöschlich in mein Gedächtnis einmeißelte", wie er selbst sagt. Er wird zusammen mit anderen Neuzugängen aus anderen Lagern in Block 29 untergebracht, dessen Fenster vergittert und nicht zu öffnen sind. "Die Verhältnisse im Lager was die Verpflegung betrifft, wurden immer schlechter. Unsere Brotrationen wurden kleiner, die Suppe noch dünner", so Stanowski. Die Baracken sind heillos überfüllt: statt der vorgesehenen 208 Häftlinge müssen sich bis zu 1.600 Menschen eine Baracke teilen. Die Überfüllung des Lagers beschleunigt die Typhus- und Fleckfieberepidemie: Die Sterblichkeit lag im Januar ’45 bereits bei 2.903 Toten und als Stanowski im März eintrifft, liegt sie noch deutlich höher. Das Krematorium arbeitet seit Februar nicht mehr und die Bereiche bei der Totenkammer, dem Krankenrevier, dem Krematorium und dem Invalidenblock sind überhäuft mit Leichen. Doch nicht nur dort: auch unter freiem Himmel liegen die nackten Körper geschundener Menschen. Sie haben sich zu Tode gearbeitet, sind Krankheiten oder Hunger erlegen oder sind willkürlichen Exekutionen durch die SS-Männer zum Opfer gefallen.

Ab dem 20. April werden im KZ Dachau keine Sterbefälle mehr dokumentiert, am 23. April verlassen die Arbeitskommandos zum ersten Mal nicht mehr das Lager – den Häftlingen wird klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis die Alliierten das Lager befreien. Vorher schicken die SS-Leute aber noch mehrere tausend Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Alpen. Polen seien Stanowskis Erinnerung zufolge jedoch kaum unter den Ausgewählten gewesen. Die bleiben im KZ und hören, wie sich das Artilleriefeuer langsam nähert. "Aus den Baracken konnte man Lastwagen mit Militär sehen und wir hofften, dass das schon die Befreier wären", erinnert sich Stanowski, gefolgt von einem freudlosen Lachen. "So einen Tag vor der Befreiung haben wir das gesehen und es entstand unglaubliche Freude und wir klatschten Bravo. Aber diese Hoffnung, die wir hatten, zerstreute sich dann leider. Denn es waren noch die Deutschen."

Unter den Häftlingen geht das Gerücht um, die SS hätte Order, die zurückgebliebenen Häftlinge in den kommenden Tagen zu erschießen, damit keiner von ihnen den Alliierten in die Hände fällt. Umso größer ist die Freude bei Stanowski und den anderen, als sich tatsächlich kurze Zeit später die Amerikaner dem Konzentrationslager nähern. "An einem der nächsten Tage kam von Seiten der Küche ein riesen Geschrei und dieses Geschrei setzte sich von Baracke zu Baracke fort", erinnert sich Stanowski an den entscheidenden Augenblick. "Und kurze Zeit darauf haben wir gesehen, dass der erste Amerikaner, der das Tor erreichte, auf den Händen der Häftlinge durchs Lager getragen wurde."

Plötzlich ist Leszek Stanowski frei. Die Amerikaner päppeln ihn wieder auf und lassen ihm die Wahl, ob er in Deutschland bleiben oder wieder nach Polen zurückkehren möchte. Stanowski entscheidet sich für seine Heimat und kehrt im Sommer 1945 als letzter aus seiner Familie wieder nach Polen zurück – alle sind wieder zusammen, so wie vor dem Krieg. "Das einzige, was mir geblieben ist, ist meine Schwerhörigkeit. Das ist eine Folge des KZ", sagt er. Auf die Frage, wie er das alles überstehen konnte, meint er heute: "Ich war noch jung und das war von Vorteil. Und mein Glaube ans Überleben und ans Weiterleben war ungebrochen."

Etwas aufbauen, nachdem alles zerstört wurde

Für Leszek Stanowski ist es eine Herzensangelegenheit, anderen von seinen Erlebnissen während der Nazi-Diktatur zu erzählen. Es gibt ihm eine gewisse Genugtuung, das zu tun und damit im Idealfall etwas zu erreichen. "Junge Menschen kennen den Krieg nicht und es fällt ihnen schwer zu glauben, was wir erlebt haben. Es gibt Menschen, die überhaupt nicht glauben, dass wir so etwas überleben mussten." Deswegen sei es ihm wichtig, diesen Menschen entschieden gegenüberzutreten. Auch werde er immer wieder gefragt, ob er die Deutschen oder die deutsche Sprache hasse – was er beides immer verneine. Er habe sich in den vergangenen Jahren davon überzeugen können, dass das deutsche Volk heute nicht mehr das von damals sei. Und auch sein Aufenthalt in den Konzentrationslagern habe nichts daran geändert, dass er die deutsche Sprache liebe, weil ihm der Westen näher sei als so mancher Nachbar im Osten.

Sein Lebenswerk sieht Leszek Stanowski im Wiederaufbau seines Heimatlands Polens, den er ab 1949 durch den Wiederaufbau der Elektrizitätswerke in Posen und Stettin selbst mitgestaltet hat. Deswegen trägt auch, obwohl er schon jahrelang in Rente ist, immer noch die Krawatte mit dem Emblem des Verbands der Polnischen Elektroingenieure. "Das Wichtigste war, dass es uns gelungen ist, wieder etwas aufzubauen, nachdem alles zerstört worden ist."

Die Begegnung mit den Zeitzeugen wurde durch das Journalisten-Programm des Maximilian-Kolbe-Werks ermöglicht, an dem die Autorin 2015 teilgenommen hat. Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Um die Arbeit zu unterstützen, können Sie entweder online spenden oder das Geld auf folgendes Konto überweisen:
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