Sein Herz schlägt schmerzhaft gegen seine Rippen. Mit jedem Schritt tut es mehr weh. Jeder Atemzug brennt und die Seitenstiche sind fast unerträglich. Trotzdem läuft Harold Lewin weiter. Immer weiter. Rechts rum, links rum, über eine kleine Brücke. Nur weiter. Immer weiter durch die engen Gassen des Amsterdamer Rotlichtviertels. Hinter ihm hört er das wütende Bellen der Schäferhunde, die ihm dicht auf den Fersen sind. Das Bellen der Hunde und die lauten Schritten der Männer sind das einzige, was Lewin hört. Alle anderen Geräusche blendet er aus – konzentriert sich nur auf die Schritte und das Bellen hinter ihm. Denn er weiß: Je lauter sie werden, desto schneller muss er rennen. Immer wieder ruft einer der deutschen SS-Männer seinen Leuten harsche Befehle zu. Dann kracht ein Schuss aus dem Gewehrlauf eines Deutschen, so dass Lewin reflexartig den Kopf einzieht und einen Haken schlägt. Nur um Haaresbreite verpasst die Kugel ihr Ziel. Lewins Beine sind schwer wie Blei und er spürt, wie ihn langsam die Kraft verlässt. Nur der Wille ist noch da – der Wille zu leben. Er will noch nicht sterben. Und deshalb rennt er, so schnell ihn seine müden Beine tragen. Plötzlich spürt er eine Hand an seinem Arm, die ihn kraftvoll zur Seite reißt, so dass er ins Stolpern gerät.
Lewin stockt, öffnet seinen Mund kurz und schließt ihn wieder, ohne dass auch nur ein Ton herausgekommen ist. Er sucht nach Worten für das, was dann geschehen ist. Blinzelt ein paar Mal und dreht seinen alten, abgegriffenen Gehstock unruhig in seiner Hand hin- und her. Das leise Scharren des Stocks auf den Fliesen ist das einzige Geräusch in der Recklinghausener Synagoge. Kurz schließt er die Augen, atmet tief ein und murmelt leise, fast wie zu sich selbst: "Die hatten schon mein Foto, die wussten schon, wer ich bin. Ich hatte wirklich langsam keinen Ausweg mehr, das sind alles enge Straßen mit schmalen Brücken und vielen Kanälen – ich fand keinen Ausweg mehr. Aber das werden sie nicht verstehen, wenn sie nicht die ganze Geschichte kennen." Langsam hebt Harold Lewin den Kopf, lächelt matt und beginnt.
Am 30. Oktober 1925 wird Harold Lewin als drittes von fünf Kindern in Essen geboren. Der Vater führt einen kleinen Laden und die Mutter sorgt Zuhause für die Familie. Die Lewins sind angesehene Leute, die Nachbarn grüßen sie auf der Straße und stehen gerne mal mit ihnen zu einem Plausch zusammen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und den Nachbarn ist die Religion – denn die Lewins sind Juden. "Ich bin auf eine jüdische Schule gegangen, aber nachmittags habe ich mit den Jungs aus meiner Nachbarschaft gespielt", erinnert sich Harold Lewin an seine unbeschwerte Kindheit.
Der aufkommende Nationalsozialismus und Antisemitismus habe sein Leben nur wenig berührt. Er habe sogar mit den anderen Kindern zusammen den neuen "Stürmer" gelesen – die Darstellung der Juden mit O-Beinen und Hakennase habe er nicht für voll genommen. "Ich war neugierig, was sie heute wieder zeigen würden, so wie man heute eine Komik-Zeitung liest. Dass die mich meinten, habe ich nicht verstanden. Ich war dreizehn Jahre alt", erklärt er schulterzuckend. Lewin schämt sich nicht für die Unbedarftheit, mit der er als Kind die Welt gesehen hat. Natürlich habe er bemerkt, dass etwas vor sich geht. Nicht nur in Essen, sondern in ganz Deutschland. Aber niemand habe zu dieser Zeit darüber gesprochen – zumindest nicht mit den Kindern. "Es waren einfach jeden Tag weniger in der Schule. Wieder ein Platz leer auf der Bank neben dir. Da wusste man: Die sind weg." Zwar weiß der 13-Jährige nicht, wohin die Männer mit den langen, schwarzen Mänteln seine Freunde und deren Familien bringen, doch er weiß, dass er sie nicht wieder sehen wird.
Wie gefährlich die Lage allerdings auch für ihn und seine Familie ist, begreift der Junge nur langsam. Selbst die zerschlagenen Scheiben in den jüdischen Geschäften, die Schmierereien und die Schlägertrupps machen Harold Lewin keine Angst. Seine Eltern fürchten jedoch um die Sicherheit der Familie und am 10. November 1938, einen Tag nach der Reichspogromnacht, flüchten sie mit ihren Kindern zu Verwandten in die Niederlande. In hastig zusammengepackten Koffern befindet sich nur das Allernötigste, was die Familie zum Überleben braucht. Es muss schnell gehen, da bleibt keine Zeit für Erklärungen. "Es hieß nur: Wir müssen nach Holland. Für mich mit 13 Jahren war das ein Abenteuer. Ja, man geht nach Holland – bis dahin war ich nie in Holland gewesen, damals reisten die Menschen nicht so – es war ein Abenteuer", erinnert sich Lewin noch ganz genau an das Gefühl, das er damals bei seiner überhasteten Abreise aus Deutschland empfunden hat. Erst später erfährt er, wie denkbar knapp sie den Nazi-Fängen entkommen sind: Seine Familie gehört zu den Letzten, die ohne Visum in die Niederlande einreisen durften.
Die Familie Lewin findet in Amsterdam Unterschlupf und beteiligt sich am Aufbau der jüdisch-deutschen Gemeinschaft. Die Juden versorgen sich gegenseitig mit Unterkünften, Kleidern und Nahrungsmitteln, richten aber auch recht bald eine Bibliothek ein. Dort sitzen die Männer zusammen, lesen Zeitung oder diskutieren über das politische Geschehen. Auch Harold Lewin ist oft dort, um sich neue Bücher auszuleihen. Jedes Mal, wenn er an den Tischen der älteren Männer vorbeigeht, hört ihnen aufmerksam zu. Immer wieder vergleichen sie Deutschland und die Niederlande miteinander – immer mit dem gleichen Ergebnis: In Deutschland sei alles viel besser. "Da ist mir die Galle hochgegangen", erinnert sich Lewin, "Ich war nie jemand, der den Mund gehalten hat. Also habe ich gesagt: Was wollt ihr eigentlich? Ihr habt nichts retten können als das, was ihr am Leib hattet. Ihr habt alles verloren. Und immer noch heißt es: Bei uns in Deutschland? Dann wurden sie alle still und ich habe es nie wieder gehört, wenn ich da war." Er muss jetzt noch lachen, wenn er an die erstaunten Gesichter der Männer zurückdenkt und wie sie nur zerknirscht genickt hatten – sie hatten sich von einem 13-jährigen zurechtweisen lassen müssen.
Harold Lewin erzählt gerne von dieser Begebenheit in der Bibliothek, weil sie seinen Charakter sehr gut widerspiegelt. "Ich habe nie wie andere Menschen das Gefühl gehabt, dass alle anderen gegen mich sind. Du willst gegen mich sein, bitte, schlag mich, ich schlag zurück. Deswegen war ich auch im holländischen Widerstand", erklärt Lewin und kommt damit zum eigentlichen Ausgangspunkt seiner Geschichte zurück: Der Verfolgungsjagd durch die engen Gassen des Amsterdamer Rotlichtviertels.
"Da packt mich also diese Hand an der Schulter und ich stolpere, aber bevor ich fallen kann, zieht sie mich in den Hauseingang. In diesem Moment habe ich erkannt, dass es kein SS-Mann, sondern eine der holländischen Huren ist", erzählt er. "Sie zog mich in das Hinterzimmer, öffnete eine Schranktür und schob mich rein. Noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie die Tür geschlossen und den Schlüssel im rostigen Schloss herumgedreht." Auch nach all den Jahren hat Lewin immer noch den Geruch von Motten in der Nase und die Geräusche im Ohr, die die Prostituierte und einer der deutschen Soldaten machten. "Ich saß in diesem Schrank und hörte jedes Stöhnen, jeden Schrei – ich bin mir nicht sicher, wie lange es gedauert hat, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor", schildert Lewin die Geschehnisse in dem kleinen, spartanisch eingerichteten Hinterzimmer, in dem nicht mehr zu finden war als der klapprige Schrank, das Bett und ein kleines Tischen.
Doch noch lauter als das Stöhnen der Prostiturierten sei ihm die Stille danach vorgekommen. Endlos habe er in seinem kleinen Versteckt gehockt und auf ein Geräusch gewartet. Alles sei ihm in diesem Augenblick lieber gewesen als diese ohrenbetäubende Stille. Doch das knarrende Holz und die gedämpften Schritte belehren ihn eines Besseren: Es war schlimm im Dunkeln zu sitzen und nichts zu hören. Aber es war viel schlimmer, im Dunkeln zu sitzen und zu hören, wie sich jemand dem Schrank näherte, aber nicht zu wissen, wer es war. Sein Herz habe ihm bis zum Hals geklopft und er habe schweißige Hände gehabt. "Schließlich drehte sich der Schlüssel im Schloss und langsam ging die Tür auf. Ich musste im ersten Moment gegen das Licht anblinzeln und so habe ich nicht sofort erkannt, dass meine Retterin vor mir stand und nicht mein Henker." Wieder stockt Lewin und rückt sich gedankenverloren seine weinrote, mit goldenen Stickereien verzierte Kippa zurecht. "Ich habe sie gefragt, warum sie das gemacht hat. Sie wusste, was sie riskiert. Denn wenn sie mich gefunden hätte, dann hätten sie sie mitgenommen und ihr Haus abgebrannt." Seine Hände zittern leicht und er umfasst seinen Gehstock fester. Gedankenversunken sitzt er da und wiederholt leise die Worte der Protituierten, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben: "‘Ich bin eine Hure‘, sagte sie. ‘Aber ich bin auch eine Holländerin. Ein Mensch. Und darum habe ich sie gerufen‘. Das waren ihre Worte." Lewin holt ein graues Stofftaschentuch heraus und schnäuzt sich lautstark die Nase. Tränen glitzern in den Augen des alten Mannes und kullern ihm während seiner nächsten Sätze über die Wangen: "Das war das Beispiel der holländischen Bevölkerung. Das war die Seele der holländischen Bevölkerung. Denn das ist mir später noch häufiger passiert."
Wie oft ihm so etwas später noch passiert ist, will Lewin nicht schätzen – dazu sei es eben doch zu häufig gewesen. Doch vor der Verhaftung kann ihn selbst die Zivilcourage der Niederländer nicht retten. "Das war im September ´44 in Arnheim, nach der Landung der Alliierten", erinnert sich Lewin und erzählt von einer Kontrolle der SS kurz vor seinem damaligen Heimatort. "Ich zeigte den SS-Männern meinen Pass, der mich als katholischer Holländer auswies. Mittlerweile war mein holländisch fehlerfrei, so dass sie keinen Unterschied feststellen konnte. Deshalb ließen sie mich weiterziehen", so Lewin. "Ich war vielleicht gerade mal 50 Meter gekommen, als mich einer der SS-Männer zurückrief. Und für einen Augenblick blieb ich einfach nur stocksteif stehen und schloss die Augen. Im Bruchteil einer Sekunde musste ich mich zwischen zurückgehen und weglaufen entscheiden." Wieder macht Lewin eine Pause, um sich zu schnäuzen. Diesmal bleiben seine Augen jedoch trocken. Sachlich berichtet er davon, wie er sich dafür entschieden habe, zu den Wachen zurück zu gehen. Es sei ihm nicht so schwer gefallen, wie man es sich vielleicht vorstelle, meint er. Er sei umgekehrt, weil er nicht mit einer Kugel im Rücken hatte enden wollen. Dann lieber kurz und schmerzlos ein Schuss in den Kopf . Aber er wollte nicht wie ein Feigling von hinten auf der Flucht erschossen werden. Für so ein Ende habe er zu hart gekämpft. "Und dann, als ich vor den Wachen stand, prüften sie noch einmal meinen Pass und plötzlich befahl einer mit einem bösartigen Grinsen auf den Lippen: "Hose runter!" und in diesem Augenblick wusste ich, dass es vorbei war." Denn als Jude sei er beschnitten gewesen. Alles andere sei dann schnell gegangen: Rauf auf ein Motorrad, nach Duisburg zum Gestapo-Gefängnis, wo er noch ein schweres Bombardement der Stadt erlebte, und dann ab in den Zug, der Richtung Buchenwald fuhr.
"In dem Wagon waren wir mit vierzig oder mehr Menschen eingesperrt. Alle standen wir eng aneinander gedrängt in diesem alten Viehwagon. Es war nicht genügend Platz, um sich hinzusetzen, dabei taten uns allen die Beine weh vom langen Stehen. Anfangs weinten die Kinder noch, klagten über Hunger – aber irgendwann wurden sie still." Harold Lewin presst die Lippen zusammen und sein Adamsapfel zuckt, als er schwer schlucken muss. Es sind die quälend-realen Erinnerungen eines Mannes, der den Anblick der Kinder in den entkräfteten Armen ihrer Mütter niemals vergessen wird. "Ich weiß nicht, wie lange die Fahrt gedauert hat. Irgendwann standen wir drei Tage in Weimar auf dem Hauptbahnhof. Die, die noch konnten, haben jedes Mal um Hilfe gerufen, wenn einer der Zivilisten in die Nähe unseres Viehwagons gekommen ist. Aber sie haben sich nur umgedreht und weggeschaut. Manchmal haben sie noch die Nase gerümpft über den bestialischen Gestank, der von den Wagen ausging." Deswegen regt es Lewin auf, wenn diese Menschen ihren Kindern oder Enkeln erzählen, sie hätten von nichts gewusst.
In Buchenwald angekommen, habe man sie aus dem Wagon getrieben. Er sei nach dem langen Stehen wacklig auf den Beinen gewesen und die spitzen Steine haben sich in seine Fußsohlen gebohrt, doch er habe versucht aufrecht zu stehen und gesund auszusehen – so gesund, wie man ausgehungert und verdreckt eben aussehen könne. "Der Arbeitsdienst im Lager war hart. Es gab wenig zu essen, es wurde Winter und wir froren bitterlich. Jeder in Buchenwald war krank, dreckig und verlaust, doch niemand hatte die Kraft sich dafür zu schämen. Scham und all die anderen Gefühle gab es in Buchenwald nicht, dafür hatten wir keine Kraft." Harold Lewin hält seinen abgegriffenen Gehstock so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Er hat ein dreiviertel Jahr im Außenkommando Dessau des KZ Buchenwald überlebt, während andere schon nach ein bis zwei Monaten starben. Was er in dieser Zeit gesehen hat, verfolgt ihn den Rest seines Lebens. "Ich sah Menschen im Konzentrationslager Buchenwald, die zu den mit Hochspannung geladenen Zäunen liefen, diese mit beiden Händen packten und so einem unerträglich gewordenen Leben ein Ende bereiteten. Und ich sah die brutale Grausamkeit der SS-Wachen, die ein perverses Vergnügen daran hatten uns Häftlinge zu demütigen und zu ermorden. Einmal zählte ein SS-Mann die vom Arbeitseinsatz zurückkommenden Häftlinge. Auf den Letzten machte er einen Schritt zu und riss ihm die Mütze vom Kopf. Dann schmiss er sie vor das Tor und lachte. Der Häftling rannte, um sie zurück zu holen. Doch noch während er lief, legte die Wache an, zielte und schoss. Traf ihn zwei, drei Mal, bis er reglos am Boden liegen blieb. Auf der Flucht erschossen, hieß es. Sein Blut vermischte sich mit dem Schnee und-" Lewin bricht ab. Schließt die Augen, so als müsse er die Tränen zurückblinzeln. Seine Stimme klingt erstickt und wieder muss er schlucken, bevor er weiter sprechen kann. "Dafür hat er einen Tag Sonderurlaub bekommen."
In die Verachtung für das Verhalten der Wärter mischt sich die eigene Reue. Das bereuen, in Situationen wie diesen nicht anders gehandelt zu haben. Aber neun Monate Konzentrationslager stumpfen ab. "Ja, ich hab den Massenmord gesehen. Aber man guckte damals nicht mehr nach Toten. Ich habe viele Tote gesehen. Zu viele", gibt Lewin zu und massiert mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. Er sieht müde aus – ausgelaugt. Die Erinnerungen haben ihn viel Kraft gekostet, doch trotzdem erzählt er weiter. Von seiner letzten großen Angst, nachdem die Konzentrationslager befreit und Hitler geschlagen war.
"Ich bin Mitte `45 nach Amsterdam zurückgekommen. Und ich hatte Angst zu dem Haus zu gehen, in dem meine Eltern und Geschwister gewohnt haben. Ich fürchtete mich davor zu erfahren, dass sie nicht mehr da waren. Dass die Nazis sie doch noch geholt hatten. Drei Tage habe ich gebraucht, um hinzugehen. Zum Glück habe ich sie alle lebend wieder gefunden – ernährt vom holländischen Widerstand. Ich habe Glück gehabt. Großes Glück sogar", erzählt Harold Lewin und die Erinnerung an den Augenblick, in dem er endlich wieder seine Familie umarmen konnten, treiben ihm wieder die Tränen in die Augen. Erneut wischt er sie unwirsch von der Wange, möchte am liebsten verhindern, dass sie gesehen werden – er will nicht weinen. Doch verhindern kann er es auch nicht, dafür sind die Gefühle zu stark, die die Erinnerungen wachrufen.
"Ein Meer von Blut war das Ergebnis"
Ruhig und gefasst sitzt Harold Lewin auf einem der Holzstühle in der Synagoge. Mit der Vergangenheit habe er abgeschlossen, sagt er sachlich, doch über manche Dinge, könne er sich immer noch tierisch aufregen. "Es ist so leicht, Nazi-Embleme auf eine Glasscheibe zu sprühen. Aufkleber mit Hasstiraden an eine Straßenlaterne zu kleben – all das ist so leicht. Aber wissen sie denn nicht, was dahinter steht? Ein Meer von Blut war das Ergebnis. Über 60 Millionen Tote in Europa, ein Meer von Blut nicht nur von Ausländern und Juden, sondern auch das Blut vieler Deutscher! Das alles steht hinter dem Hakenkreuz, das sie so leichtfertig aufsprühen." Energisch stampft er mit seinem Gehstock auf, um seine letzten Worte zu unterstreichen. Mit jedem Wort ist der sonst so besonnene, ruhige Mann lauter geworden. Es mag für ihn wichtig sein, seine Geschichte zu erzählen und damit an die Vergangenheit zu erinnern – aber noch wichtiger ist es ihm, wachzurütteln. Er hofft, dass all die Neo-Nazis und Rechtsextremisten irgendwann einmal begreifen werden, was hinter ihren Symbolen und Parolen steht. Wozu dieser Hass geführt hat. Und genau in diesem Sinn sind auch seine letzten Worte: "Ich bin ein bewusster Jude. Ich bin hier geboren so wie bereits meine Urahnen. Trotz der schrecklichen Vergangenheit liebe ich dieses Land. Es gibt heute viele Probleme. Greift aber nicht in die Vergangenheit zurück, sondern lebt für die Zukunft, damit Ihr nie das erleben müsst, was wir erlebten."
Mühsam steht Harold Lewin auf, hält sich an der Bank fest und stützt sich dann auf seinen Gehstock. Mit langsamen, unsicheren Schritten verlässt er die Synagoge. Auf dem Flur treten alle, die gerade zufällig dort stehen, zur Seite, um dem alten Mann Platz zu machen. Auch der Rabbi der Gemeinde Recklinghausen. Es ist ihre Art, ihm Respekt zu erweisen. Als Harold Lewin schließlich die Tür öffnet und nach draußen tritt, scheint die Sonne. Der Schnee glitzert im Licht und der alte Mann lächelt. Nach einem bewegten Leben hat er seinen Frieden gefunden – in Deutschland und mit Deutschland.
Die Autorin interviewte Harold Lewin im Dezember 2010 und im Juli 2011. Am 23. Oktober 2012 verstarb Harold Lewin mit 86 Jahren.