"Denke ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Ich kann nicht mehr die Augen schließen. Und meine heißen Tränen fließen." Heinrich Heines Gedicht las ich vor mehr als 35 Jahren zum ersten Mal. Dass ich es mal zitieren würde, um zu beschreiben, wie es mir geht, hätte ich nie gedacht. An diese Zeilen erinnerte ich mich in der schlaflosen Nacht nach den Bundestagswahlen. Nachdem ich das Statement von Alexander Gauland hörte schaltete ich den Fernseher aus, stöberte ein paar Minuten auf Facebook, um herauszubekommen, wie die Reaktionen von Leuten aus meinem Netzwerk sind, und postete zwei Sätze: "Mir ist übel. Ich habe Angst!"
Was folgt dem Einzug der AfD in den Bundestag? Was macht es aus dem Land, in das Rechtsextreme als Repräsentanten der Bürger ins Parlament gewählt wurden? Um diese Fragen kreisen meine Gedanken. Es fällt mir schwer, "unser" Land zu schreiben. Und das nicht etwa, weil Gauland und Konsorten der Ansicht sind, dass Menschen wie ich – Deutsche, die anderswo geboren wurden – nicht hierher gehören. Ich bin vielmehr zutiefst erschrocken darüber, dass so viele Menschen kein Problem damit haben, die AfD zu wählen.
Die erste Angst ist inzwischen der Wut gewichen. An Deutschland denkend habe ich geweint – aus Wut! Wut über Menschen, die wegen ihrer Sorgen eine Nazi-Partei wählen. Sorry, besorgte Bürger! Ihr seid wütend auf die Bundeskanzlerin und die Politik der großen Koalition. Und ich bin wütend auf Euch! Aus Sorge um seine Zukunft einer Partei die Stimme zu geben, die offenkundig rassistisch und nationalistisch ist: Dafür habe ich kein Verständnis. Meine Empathie hat Grenzen!
Manche aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis versuchen mich zu beschwichtigen, verstehen meine Wut nicht. Sie sagen: Die Mehrheit, 87 Prozent, hat eben nicht die AfD gewählt. Die AfD-Wähler hätten ohnehin mehr aus Protest gewählt statt mit Blick auf das Parteiprogramm. Mich trösten diese Erklärungen nicht. Mir geht durch den Kopf, was von AfDlern vor der Wahl zu hören war – etwa Gaulands Äußerungen über die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz oder sein Appell zur Geschichtsumdeutung und all die Entgleisungen anderer AfD-Funktionäre, die ihr Denken offenbarten. Sie sind nun auch als Abgeordnete im Bundestag vertreten.
Es ist erschreckend, dass 13 Prozent der Wähler aus Frust bereit waren, eine rechtsradikale Partei zu wählen, eine Partei, deren Rassismus und Chauvinismus offensichtlich ist. Ich und andere Menschen wie ich haben allen Grund, besorgt und wütend zu sein und Angst zu haben.
Ich will nicht jedes Mal in Paranoia verfallen, wenn in den Bus oder die Bahn einsteige, am Bankschalter stehe oder beim Bäcker meine Brötchen hole. Aber der Wahlerfolg der AfD sorgt dafür, dass ich mir selbst im Polizeirevier oder im Gericht die Frage stelle: Wer von euch könnte die AfD gewählt haben, wer will mich insgeheim "nach Anatolien entsorgen"? Denn das Wahlergebnis hat eine dunkle Wahrheit, die schon lange stimmt, wieder ans Licht gebracht: Nationalisten und Neonazis, Rassisten, Rechtsextreme sind mitten unter uns – und jetzt auch im Parlament.
Ich bin noch in Katerstimmung. Angst war meine erste Reaktion. Es folgte Wut. Beides wird mich aber nicht dauerhaft begleiten. Langsam verspüre eine ganz große Energie in mir. Gerade wir, die Menschen mit Migrationshintergrund, dürfen uns nicht von unserer Angst lenken lassen. Wir sind hier und werden weiterhin für die Vielfalt werben. Das politische Parkett darf nicht den Angstmachern überlassen werden. Dieser Auftrag geht auch an die Parteien im Bundestag. Denn sie müssen in Wort und Tat zeigen, dass sie für die plurale Gesellschaft einstehen. Sonst werden die nächsten vier Jahre – und das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl 2021 – noch viel mehr Menschen um den Schlaf bringen.