Edith Stein
Foto: epd-bild/akg-images
Philosophin und Karmeliter-Nonne Edith Stein
"Der Mensch will die ganze Wahrheit"
Vor 75 Jahren wurde Edith Stein in Auschwitz ermordet
Edith Stein war eine der großen Frauen in der Kirche des 20. Jahrhunderts: gebürtige Jüdin, Philosophin, katholische Ordensfrau, 1998 heiliggesprochen. Vergeblich hatte sie den Papst aufgefordert, sich gegen die NS-Judenverfolgung zu stellen.

Der israelische Rabbiner David Rosen ist ein toleranter Mensch. Aber als 1998 die Nachricht um die Welt ging, die jüdische Ordensfrau Edith Stein (1891-1942) werde nach langen Querelen doch heiliggesprochen, gab er nur den sarkastischen Kommentar ab: "Ich vermute, dass es Leute gibt, die meinen, wir sollten dankbar sein." In den Augen nicht weniger Juden stellte es einen unzulässigen Vereinnahmungsversuch dar, dass Johannes Paul II. die in Auschwitz ermordete Karmelitin in den katholischen Heiligenhimmel aufnahm.

"Es ist schon bitter", bemerkte eine Nichte Edith Steins bereits nach der Seligsprechungsfeier 1987: "Heute schauten Millionen zu, als der Papst unsere Tante selig sprach. Aber 1933 bekam sie keine Antwort vom Papst, als sie auf das Schicksal der Juden hinwies."

Am 12. Oktober 1891 in Breslau geboren, wuchs Edith Stein in der intensiven religiösen Atmosphäre einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Sie war das jüngste von elf Kindern. Ihr Vater, ein Holzhändler, starb, als sie ein Jahr alt war. Die Mutter führte das Geschäft erfolgreich weiter und ermöglichte ihren Kindern ein Studium.

Uni-Karriere mit Hindernissen

Die junge Edith Stein sprudelte über von verrückten Einfällen und war für ihre Wutausbrüche gefürchtet. Die Pubertätskrise kam mit dem dreizehnten Lebensjahr. Damals habe sie sich ganz bewusst das Beten abgewöhnt, berichtete sie später. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr sei sie Atheistin gewesen.

1911 schrieb sie sich an der Universität Breslau ein, Lehrerin wollte sie werden. In der experimentalpsychologischen Vorlesung war sie die einzige weibliche Hörerin. Sie wechselte nach Göttingen, schloss sich an den Phänomenologen Edmund Husserl an. In der Phänomenologie geht es um das reine Bewusstsein von den Dingen, um die Betrachtung ohne vorherige Interpretation. Husserl wagte es, wieder von der Wahrheit des Seins zu sprechen und von der lange verpönten Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen.

Immer klarer kristallisierte sich bei Edith Stein die Frage nach dem tiefsten Grund der Wirklichkeit heraus, nach der unzerstörbaren Realität. Als Husserl 1916 einem Ruf nach Freiburg folgte, machte er Edith Stein zu seiner Assistentin. Eine Universitätskarriere blieb ihr aber verwehrt, was nicht nur am zunehmenden antisemitischen Klima lag, sondern auch an den Ängsten der Professoren, die sich weibliche Kolleginnen auf einem Lehrstuhl nicht vorstellen konnten.

Synagogenbesuch trotz Taufe

Vergeblich versuchte sie, sich zu habilitieren. Ihre abgelehnte Arbeit über "Potenz und Akt" überarbeitete sie 1936 unter dem Titel "Ewiges und endliches Sein". Veröffentlich wurde dieses, ihr Hauptwerk, erst 1950. Der Mensch sei nicht nur auf einzelne Wahrheiten aus, schrieb sie darin: "Er will Ihn selbst, der die Wahrheit ist, den ganzen Gott, und ergreift ihn, ohne zu sehen."

In ihren Werken versuchte sie, eine Brücke zwischen der geistigen Tradition des christlichen Abendlandes und den philosophischen Neuaufbrüchen ihrer Zeit zu schlagen. 1922 hatte Edith Stein sich taufen lassen - was sie nicht daran hinderte, weiter mit ihrer Mutter in die Synagoge zu gehen.

Sie wurde Deutschlehrerin in Speyer und später Dozentin am katholischen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster. In zahlreichen Reden stritt sie gegen die Unterdrückung der Frau und warb dafür, ihr die Eingliederung in das Berufsleben zu erleichtern.

Der nationalsozialistische "Arierparagraph" beendete 1933 ihre Lehrtätigkeit. Im selben Jahr schrieb sie Papst Pius XI., um ihn zu einer Enzyklika gegen den Antisemitismus zu bewegen. Fünf Jahre später, 1938, gab der Papst tatsächlich ein Rundschreiben in Auftrag. Es blieb jedoch beim Entwurf. Pius XI. starb 1939. Sein Nachfolger Pius XII. beschränkte sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs auf Friedensappelle und Vermittlungsversuche.

Edith Stein hatte zu diesem Zeitpunkt schon ihre sechs ersten Klosterjahre hinter sich: In Köln war sie 1933 in den Karmelitenorden eingetreten. Schwester Teresia Benedicta a Cruce (Theresia, die vom Kreuz Gesegnete) hieß sie jetzt. Ihr Judentum legte sie als Nonne keineswegs ab. Sie wollte die Schicksalsgemeinschaft zwischen Christen und Juden leben. Am Ölberg bei Christus in seiner Todesangst ausharren und solidarisch mit ihrem gejagten, abgeschlachteten Volk sein - das wuchs für die jüdische Karmelitin immer zwingender zu einer unauflösbaren Einheit.

Um ihre Mitschwestern nicht zu gefährden, übersiedelte sie in der Silvesternacht 1938/39 nach Holland - doch 1940 marschierten die Nazis auch hier ein. Man bemühte sich darum, ihr eine Auswanderungserlaubnis in die neutrale Schweiz zu verschaffen. Staatliche und kirchliche Bürokraten machten das Asylverfahren allerdings zu einem zeitraubenden Trauerspiel.

Als Anfang August 1942 die katholischen Juden in den Niederlanden verhaftet und deportiert wurden, schätzungsweise 1.200 Menschen, war Edith Stein unter ihnen. Wahrscheinlich wurde sie sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz, am 9. August 1942, in der Gaskammer ermordet.