Langsam blättert der Mann mit schütterem weißem Haar die dicht beschriebenen, großen Seiten im "Buch der Namen" um, fährt mit dem Finger über das gelbliche Papier. Kurz hält er inne, sein Finger ruht auf einer Reihe von Namen. Sein Mund bewegt sich, doch kein Ton verlässt seine Lippen. Dann lässt er das Buch zufallen, wendet sich ab und geht. Es ist trübe draußen, graue Wolken bedecken den Himmel an diesem Januar-Tag vor Block 27 im ehemaligen Stammlager des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
Jedes Jahr strömen 1,5 Millionen Besucher an den Ort, der als Symbol der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten gilt. Dr. Leon Weintraub (*1926) ist einer von ihnen. Bei seiner Frau Evamaria Loose-Weintraub untergehakt, läuft er die alte Lagerstraße entlang, macht Fotos und lauscht der Führung. In einem Ausstellungsraum steht unter einem Foto, das das Ghetto Lodz zeigt. Empört schüttelt Weintraub den Kopf und sagt zum Guide: "Es gab nie ein Ghetto Lodz. Es gab die Stadt Lodz und es gab das Ghetto Litzmannstadt. Bitte ändern Sie das." Es wird versprochen, das zu ändern. Denn Leon Weintraub ist kein normaler Besucher, er ist ein Überlebender.
Eine abscheuliche Lüge der Deutschen
Er wuchs in Lodz in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Mutter musste ihn und seine vier älteren Schwestern nach dem frühen Tod des Vaters allein großziehen. In einer beengten Zwei-Raum-Wohnung flüchtete sich der kleine Junge in die Welt der Bücher. "Sie waren meine Oase", sagt er lächelnd. Er liebte die Schule, liebte das Lernen.
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Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen 1939 änderte sich alles für den 13-Jährigen. Im Dezember ließen die Deutschen ein Ghetto errichten, in dem sie alle Juden zusammenpferchten. Mit neun Personen lebte Weintraub fortan in einem einzigen Raum, zwölf Stunden lang arbeitete er in einer Fabrik und nachts schlief er auf dem Fußboden. Zu essen gab es nur ein wenig altes Brot. "Wisst ihr", sagt er stockend, "was Hunger ist? Ich kann mir denken, dass ihr manchmal in der Eile den Lunch überspringt und abends sagt: Puh, ich habe Hunger. Das ist kein Hunger. Dieses nagende Gefühl – nicht nur Wochen, nicht nur Monate – jahrelang unterernährt zu sein. Und jahrelang niemals, kein einziges Mal, zu fühlen wie es ist, sich satt gegessen zu haben."
Bis 1944 lebten die Weintraubs im Ghetto Litzmannstadt, als die Deutschen ankündigten, die Menschen angeblich ins Deutsche Reich umzusiedeln. Mehrfach entging die Familie der Deportation: Sie deckten den Tisch und ließen die Deutschen glauben, sie seien bereits fortgebracht worden. In Wirklichkeit aber versteckten sie sich in einem Schrank. "Wir flogen auf, als ein Soldat kam und sagte: Jeder, der sich versteckt, wird erschossen. Da bekam meine Mutter Angst und kam hervor", erinnert sich Weintraub. Zusammen mit seiner Mutter, seiner Tante und drei seiner vier Schwestern wurde er von der SS zum Sammelplatz getrieben und in einen Viehwagon gesperrt.
Im Kopf keine Gedanken mehr
In dem Waggon standen die Menschen dicht gedrängt, nur durch schmale Öffnungen drang frische Luft ins Innere. Ihre Notdurft verrichteten die Deportierten in zwei Eimer, die schon binnen kürzester Zeit überfüllt waren. Zwei Mal wurde es Nacht, bevor der Zug auf der Rampe in Birkenau anhielt. Der 18-jährige Weintraub stolperte aus dem Wagon, hielt seinen kleinen Rucksack umklammert. Ein Häftling entriss ihn ihm und als er protestierte, antwortete der Häftling: "Das ist kein Ort zum Leben. Das ist ein Ort zum Sterben." Weintraub wollte ihm nicht glauben. "Erst als ich die elektrischen Stacheldrahtzäune gesehen habe", sagt er, "wusste ich, dass alles, was die Deutschen uns erzählt hatten, eine ganz abscheuliche Lüge war."
Während er das Stammlager als Häftling nie kennengelernt hat, weckt der Besuch in Birkenau Erinnerungen. Von seiner Frau gestützt geht Leon Weintraub über die Lagerstraße und deutet auf die gemauerten Schornsteine – die Überreste der Holzbaracken. An der Rampe bleibt er stehen und sieht sich um. "Ich habe meiner Mutter und meinen Schwestern gesagt, dass wir uns drinnen wiedersehen – denn es musste ja ein 'drinnen' geben. Und dann habe ich ihnen zugewinkt", erinnert er sich. Schweigend geht er weiter die Schienen entlang. Es hat angefangen zu schneien. Seine Frau setzt ihm fürsorglich die Kapuze auf. Er geht den Weg von der Rampe zu den Krematorien – den Weg in den sofortigen Tod, der ihm damals erspart geblieben ist, weil er bei der "Selektion" als arbeitstauglich eingestuft wurde.
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Statt in die Gaskammer brachte man Weintraub in die "Sauna", er wurde geduscht und rasiert. An vielen Stellen schnitten die Maschinen ins Fleisch und rissen Hautfetzen mit ab. "Danach wurden wir zur Desinfektion geschickt und das Mittel brannte ganz fürchterlich in den offenen Wunden", erzählt Weintraub. Er wurde schließlich im Jugendblock Nr. Zehn im ehemaligen "Zigeunerlager" untergebracht. Eine Nummer wurde keinem tätowiert. "Nummern gab es nur für die, die arbeiten durften. Die wurden registriert. Wir waren die Arbeitsreserve. Unser Tod war nur aufgeschoben, weil wir vielleicht noch nützlich sein konnten", erklärt Weintraub ruhig und distanziert. Unter den Männern in seiner Baracke kannte er niemanden, er sprach kaum und zog sich zurück. Er habe funktioniert wie ein Roboter, habe das endlos lange Appellstehen ertragen und alle Sorge über das Schicksal seiner Familie verdrängt. In seinem Kopf hätte es keine Gedanken mehr gegeben.
Nach einigen Wochen in Birkenau sah der 18-Jährige eine Gruppe nackter Männer auf der Lagerstraße stehen. Sie erzählten ihm, dass sie auf Kleidung warteten, um raus in ein Arbeitskommando verlegt zu werden. "Raus wurde für mich zum Signalwort und als ich sah, dass keine SS-Männer und keine Kapos in der Nähe waren, zog ich meine Kleider aus und stellte mich dazu. So verließ ich Birkenau", erinnert sich Weintraub. Das war Ende September 1944. Von da an begann für ihn eine Odyssee: Zuerst wurde er ins KZ Groß-Rosen deportiert, dann nach Flossenbürg und Ende März 1945 in das Außenlager Offenburg des KZ Natzweiler. "Und immer nur Hunger, Hunger, Hunger, Tod, Tod, Tod", sagt Weintraub.
Als die Alliierten immer näher rückten, entschloss sich die SS, so viele Häftlinge wie möglich in einen Zug zu pferchen, und ihn in Konstanz im Bodensee zu versenken. Wegen der Bombardierung mussten die Häftlinge immer wieder aussteigen und sich im Wald verstecken. Und weil die SS-Männer nicht überall gleichzeitig sein konnten, gelang es Weintraub, mit einer Gruppe anderer Häftlinge zu flüchten. Die Geflohenen liefen in die entgegengesetzte Richtung, immer noch voller Angst, erwischt und sofort erschossen zu werden.
Als sie in der Nähe ihres Verstecks Schüsse hörten, traten sie mit erhobenen Händen auf die Straße. Die Soldaten trugen französische Uniformen. Die Geflohenen deuteten auf das weiße KL auf ihrer Brust. "Da kam einer näher, warf sein Gewehr hoch, fing es wieder auf, streckte uns die Hand hin und fragte "Comment ça va?", erinnert sich Weintraub. Ein wirkliches Gefühl von Freiheit empfand er in diesem Moment jedoch nicht.
"Wir haben keine Gräber für unsere Getöteten"
Die Franzosen brachten die Häftlinge in einem Gasthof unter und zum ersten Mal seit Jahren sollte Leon Weintraub in einem Bett schlafen. "Die Matratze war so weich, dass ich das Gefühl hatte, ich falle. Ich konnte so nicht einschlafen, deshalb habe ich mich auf den Fußboden gelegt und dort geschlafen." Durch Zufall erfuhr er, dass drei seiner Schwestern im KZ Bergen-Belsen waren. Dort fand er sie wieder und erfuhr auch, dass nur zwei Tage nach seiner Flucht alle Häftlinge seiner Baracke vergast worden waren.
Langsam geht Weintraub an den Ruinen des Krematoriums III vorbei. "Wir haben keine Gräber für unsere Getöteten", sagt er und bleibt vor vier schwarzen Grabsteinen stehen. "Als wir nach Auschwitz kamen und als meine Mutter mit hunderten anderen vergast und verbrannt wurde, da hatten wir kein Grab", sagt er und deutet auf die jiddische Inschrift des Steins. Dort steht: "Gewidmet den Männern, Frauen und Kindern, die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes wurden. Hier liegt ihre Asche. Mögen sie in Frieden ruhen." Von seinen 80 näheren Verwandten haben nur 16 den Holocaust überlebt. Die Namen seiner getöteten Familienmitglieder stehen im "Buch der Namen". Mühsam bückt er sich, hebt einen Stein auf und legt ihn auf den Grabstein. Dann wendet er sich ab, entfernt sich ein paar Schritte und verharrt abseits einen Augenblick mit gesenktem Kopf.
Dieser Artikel erschien erstmals am 27. Januar 2015 auf evangelisch.de