Bei einem Terroranschlag nahe der deutschen Botschaft in Kabul sind am Mittwoch Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Nach Regierungsangaben gab es mindestens 80 Tote und etwa 350 Verletzte, wie afghanische Medien berichteten. Ein in einem Lastwagen versteckter Sprengsatz detonierte am Morgen im Herzen des stark gesicherten Diplomatenviertels der afghanischen Hauptstadt. Ausgebrannte Autos und beschädigte Gebäude zeugten von der Stärke der Explosion. Auch die deutsche und französische Botschaft wurden beschädigt und Mitarbeiter getroffen.
Die Urheber des Anschlags waren zunächst noch unklar. Präsident Aschraf Ghani verurteilte den "feigen Anschlag im heiligen Monat des Ramadan" scharf. Amnesty International erklärte, der Anschlag demonstriere einmal mehr das Versagen der afghanischen Regierung, die Zivilbevölkerung zu schützen. Der Konflikt zwischen bewaffneten Gruppen in Afghanistan flaue nicht ab, sondern weite sich aus. Dies müsse die internationale Gemeinschaft alarmieren, sagte der Afghanistan-Experte der Menschenrechtsorganisation, Horia Mosadiq.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) haben den Terroranschlag nahe der deutschen Botschaft in Kabul scharf verurteilt. In einer Kondolenz an den afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani schreibt Steinmeier von einem "abscheulichen Akt des Terrorismus".
Merkel sagte bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags in Nürnberg: "Wir werden den Kampf gegen die Terroristen führen, und wir werden ihn gewinnen." Der Schock über die Bombenexplosion nahe der deutschen Botschaft sitze tief, sagte die Kanzlerin und drückte den Hinterbliebenen der Opfer ihr Mitgefühl aus.
Sigmar Gabriel äußerte sich bestürzt. Der Anschlag habe Zivilisten getroffen und "diejenigen, die in Afghanistan sind, um mit den Menschen dort an einer besseren Zukunft für das Land zu arbeiten." Dass diese Menschen zur Zielscheibe würden, sei besonders verachtenswert. Steinmeier schrieb an Ghani: "Bei unseren Bemühungen gegen den Terror werden wir auch in Zukunft zusammenstehen. Es ist meine Hoffnung, dass es uns gemeinsam gelingt, auf dem Weg zu Frieden und Sicherheit für alle Menschen in Afghanistan weiter voranzuschreiten."
Alle Mitarbeiter in Sicherheit
Bei dem Terrorakt seien auch Bedienstete der deutschen Botschaft verletzt worden. Mittlerweile befinden sich alle Mitarbeiter in Sicherheit. Ein afghanischer Sicherheitsbediensteter, der zum Schutz des Botschaftsgeländes im Einsatz war, kam nach Ministeriumsangaben ums Leben.
Die aufständischen Taliban und die Terrorgruppe "Islamischer Staat" haben in den vergangenen Monaten zahlreiche schwere Attentate in Afghanistan verübt. Bei einem Attentat auf eine Armeebasis in der nordafghanischen Stadt Masar-i-Scharif Ende April kamen mindestens 135 Soldaten ums Leben.
Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbände forderten bereits gestern den sofortigen Stopp aller Abschiebungen nach Afghanistan. Die Verbände, darunter Pro Asyl, Amnesty International, die Diakonie Deutschland und der Paritätische Gesamtverband, stellten am Dienstag in Berlin eine gemeinsame Erklärung vor. Anlass war die heute bevorstehende sechste Sammelabschiebung von afghanischen Flüchtlingen. Aufgrund des verheerenden Anschlags ist der geplante Flug verschoben worden. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Johannes Dimroth, begründete die kurzfristige Aussetzung der ursprünglich für Mittwoch geplanten Sammelabschiebung damit, dass die deutsche Botschaft vor Ort eine wichtige Rolle bei der Betreuung der Abgeschobenen habe. Die Mitarbeiter der Botschaft könnten diese Rolle nach dem Anschlag derzeit nicht vollumfänglich ausüben.
In den nächsten Tagen werde es daher keine Sammelrückführungen nach Afghanistan geben, sagte der Ministeriumsmitarbeiter. Der Grundsatz der Durchsetzung von Ausreisepflichten bleibe aber bestehen, eine neue Einschätzung der Sicherheitslage in Afghanistan gebe es nicht. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte in Berlin, dass die Abschiebung "schnellstmöglich nachgeholt werden" solle.
"Abschiebungen nach Afghanistan sind verantwortungslos."
Die Verbände kritisierten auch die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration. Sie befürchten, dass nach fehlerhaften Asylverfahren abgelehnte Afghanen abgeschoben werden und dadurch ihr Leben aufs Spiel gesetzt wird. Diakonie-Vorstand Maria Loheide sagte: "Abschiebungen nach Afghanistan sind verantwortungslos." Sie forderte die Bundesregierung auf, auf weitere zu verzichten. Die Bundesregierung könne für das Überleben der Abgeschobenen nicht garantieren, sagte Loheide.
Neue Informationen über die gefährliche Lage in Afghanistan würden in den Verfahren nicht berücksichtigt, kritisierten die Verbände. Trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage im Land würden immer mehr Asylbewerber abgelehnt. Während die Schutzquote für Afghanen vor zwei Jahren noch 78 Prozent und im vergangenen Jahr 60 Prozent betrug, seien in den ersten Monaten dieses Jahres mehr als die Hälfte aller afghanischen Asylbewerber abgelehnt worden (53,4 Prozent), sagte Günter Burkhardt von Pro Asyl. In vielen Bescheiden werde auf Fluchtalternativen im Inland verwiesen.
Die Verbände bezweifeln, dass es in Afghanistan inländische Fluchtalternativen gibt. Die Taliban seien auf dem Vormarsch. Die Sicherheitslage sei so unberechenbar, dass auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen eine Unterscheidung nach sicheren und unsicheren Gebieten ablehne. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und die meisten Bundesländer verweisen hingegen darauf, dass es im Land sichere Regionen gibt.
Der afghanische Journalist und Kriegsreporter Ramin Mohabat berichtete, es sei für einen Rückkehrer unmöglich, sich als Fremder in einem der als sicher geltenden Gebiete niederzulassen. Reisen durchs Land seien nur in traditioneller Kleidung und mit Bart möglich. Außerhalb der Städte kontrollierten die Taliban die Verbindungswege.
Abschiebungen per Sammelcharter
Der Verbände kritisierten auch die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration. Zahlreiche Verfahren seien mangelhaft. Das Bundesamt hatte vor kurzem nach einer internen Überprüfung von positiven Bescheiden zahlreiche fehlerhafte Bescheide eingestehen müssen. Dabei lag nach Informationen der "Welt" und der "Nürnberger Nachrichten" (Mittwoch) eine unzureichende Dokumentation bei vielen der 2.000 kontrollierten positiven Asylentscheidungen vor. Die Zeitungen berufen sich auf Personen, die mit den wichtigsten Ergebnissen der Untersuchung vertraut sind. Bei Antragsstellern aus Afghanistan seien solche Mängel bei mehr als 45 Prozent der überprüften Entscheidungen gefunden worden, heißt es in dem Bericht. Bei Syrern habe die Quote bei fast 20 Prozent gelegen. Hintergrund der Überprüfung war der Fall des rechtsradikalen Bundeswehrsoldaten Franco A., der sich als Syrer ausgegeben und sogenannten subsidiären Schutz erhalten hatte. Günter Burkhardt von Pro Asyl forderte, die Überprüfungen der Verfahren auch auf Negativentscheidungen auszuweiten.
Die Bundesregierung hatte im vergangenen Herbst ein Rückführungsabkommen mit Afghanistan unterzeichnet, dass die Abschiebung per Sammelcharter erlaubt. Im Dezember 2016 hatte es unter Protesten die erste Rückführung unter Zwang gegeben. Nach Angaben von Pro Asyl wurden mit den bisherigen fünf Sammelflügen knapp 100 afghanische Männer abgeschoben. Die Abschiebungen in das lange noch nicht befriedete Land sind auch zwischen dem Bund und einigen Ländern umstritten.