Farkhunda Karimi hat Zeit - und das ist keine Selbstverständlichkeit. Die 35-Jährige ist zweifache Mutter, hat gerade ihre Deutschprüfung auf dem zweithöchsten Level C1 abgelegt und pendelt häufig nach Bielefeld, denn an der dortigen Hochschule hat sie den Masterstudiengang "Sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeits- und Transformationsstudien" belegt.
Doch heute Vormittag kann die Frau mit den halblangen, tiefschwarzen Haaren, die vor zweieinhalb Jahren aus Afghanistan fliehen musste, kurz durchatmen. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Porta Westfalica, auf dem Wohnzimmertisch stehen Schälchen mit Pistazien und Mandeln, frisch gebrühter Tee, rote Rosen. Die sechsjährige Larib ist im Kindergarten, ihre zwei Jahre ältere Schwester Hassanat in der Schule, Ehemann Omid im Sprachkurs. Er wird sich später um das Mittagessen kümmern.
Bildung, sagt Karimi, sei der Schlüssel zu Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung. Sie ist froh, dass ihre Kinder diesen Weg gehen können. "Meine Nichte in Afghanistan ist in der sechsten Klasse, und meiner Schwester haben die Taliban gerade gesagt, dass der Schulbesuch ihrer Tochter damit zu Ende ist", erzählt sie. "Das Kind ist erst elf Jahre alt und nur am Weinen."
Nicht mit Männern sprechen, nicht im Park spazieren gehen, die Burka tragen, Angst haben, sich hilflos fühlen - Karimi weiß, was das bedeutet. In Deutschland bekommt sie Bafög, hat ein Stipendium zur Integration Geflüchteter an Hochschulen erhalten. Sie arbeitet ehrenamtlich für die Sozialbehörden als Dolmetscherin und hat ihrer Uni ein Konzept zur "Stärkung der Bildungschancen afghanischer Mädchen" vorgelegt. "Deutschland ist für mich eine Success-Story", sagt sie.
"Menschenrechte sind Frauenrechte"
Um auf die Situation von Frauen weltweit aufmerksam zu machen, wirkt Karimi an einem Projekt des Hannoveraners Antonio Umberto Riccò mit. In der szenischen Lesung "Nie die Hoffnung verlieren" erzählen neben der Afghanin Frauen aus dem Iran, Syrien und der Ukraine von ihrem Leben und ihrer Flucht. Es geht um überfüllte Boote, Schlepper, Stacheldraht, Tränen und Angst, aber auch um Mut und Durchhaltevermögen - und immer um Menschenrechte. "Menschenrechte sind Frauenrechte", sagt Karimi.
Vor den Taliban ist die junge Frau bereits zweimal geflohen. Einmal als Kind, als die radikal islamistische Terrorgruppe das erste Mal die Macht übernahm. Mit ihren Eltern, zwei Lehrern, die sie als "gläubig, aber weltoffen" beschreibt, und ihren Geschwistern flüchtete sie nach Pakistan und kehrte erst 2002, ein Jahr nach dem "11. September", zurück. "In Afghanistan kam endlich ein neuer Wind auf, als die Taliban verschwanden, es gab mehr Freiheiten, die Gesellschaft veränderte sich - auch für uns Frauen."
Von der Bundeswehr ausgeflogen
Karimi, die der Volksgruppe der Tadschiken angehört, macht ihren Schulabschluss, studiert "Islamic law". 2010 hat sie ihren Uniabschluss in der Tasche. Sie arbeitet für eine norwegische Nichtregierungsorganisation, später für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kabul. Als die Taliban im Sommer 2021 die Hauptstadt besetzen, muss sie ein zweites Mal fliehen. Als sogenannte Ortskraft wird sie mit Mann und Kindern von der Bundeswehr ausgeflogen.
"Sie haben unser Leben gerettet", sagt Karimi dankbar - und fügt nachdenklich an: "Der Westen war unsere Hoffnung auf ein besseres Leben in Afghanistan. Besonders wir Frauen fühlten uns verraten." Die Sehnsucht nach ihrem Land, nach Eltern und Geschwistern sei groß, sagt Karimi. Dennoch sei sie glücklich. "Hier bin ich frei."
Welt soll die Frauen in Afghanistan nicht vergessen
Nach dem Bericht der Weltbank von letztem Jahr schreitet die weltweite Gleichberechtigung von Frauen und Männern nur sehr langsam voran. Laut der Entwicklungsbank mit Sitz in Washington D.C. dauert es bei der derzeitigen Reformgeschwindigkeit noch mindestens 50 Jahre, bis Frauen und Männer rechtlich gleichgestellt sind. 190 Volkswirtschaften hat die Weltbank in puncto Frauenrechte unter die Lupe genommen. Deutschland liegt mit Ländern wie Belgien, Dänemark, Frankreich weit vorn. Afghanistan bildet mit dem Westjordanland, Jemen und dem Iran das Schlusslicht.
Karimi weiß, dass auch in Deutschland nicht alles rosarot ist. "Ich habe gelesen, dass Männer für die gleiche Tätigkeit mehr Gehalt bekommen", sagt sie. Natürlich sei das ungerecht und müsse sich ändern. Aber sie wünsche sich eben auch, dass die Welt die Frauen in Afghanistan nicht vergisst. "Sie werden ihrer fundamentalen Grundrechte beraubt."