Hoch oben in der Kuppel des Berliner Doms thront eine lichtdurchflutete Friedenstaube. Sie soll den Gläubigen symbolisieren, dass der Heilige Geist mit ihnen ist. Fast alle Plätze des Doms sind besetzt, einige neugierige Zuhörer warten vor den Eingängen, um der Diskussion zu lauschen, die unter den wachsamen Augen der Friedenstaube stattfinden soll. "Der Zerfall des Nahen Ostens – Wo sind Ansätze der Stabilisierung", lautet der Titel der Veranstaltung – eine Frage, die in Berlin wenige Kilometer weiter entfernt garantiert auch schon hunderte Male diskutiert worden ist und auf die bisher zumindest noch keine praktikable Antwort gefunden wurde. Einen Antwortversuch unternehmen im Berliner Dom drei hochangesehene Männer: Da ist zum einen Staffan de Mistura, der Sondergesandte der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga für Syrien, dann der syrische Journalist, Anwalt und Menschenrechtsaktivist Mazen Darwish und der Direktor Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes.
Der Moderator der Veranstaltung, der Fernsehjournalist Arnd Henze, ist erfreut, dass sich rund 2.000 Menschen im Dom versammelt haben, um diesen Männern zuzuhören. "Das hier ist doch nicht das klassische Wohlfühlprogramm des Kirchentags", scherzt er. Dass sich dieses Kirchentagspublikum durchaus mit schwierigen und kritischen Fragen konstruktiv beschäftigen will, statt sich mit seichten Themen berieseln zu lassen, wird im Laufe der Veranstaltung deutlich. Trotzdem erntet er für seine einleitenden Sätze viel Applaus, er trifft einen Nerv: "Wenn Sie das Gefühl haben, dieser Konflikt in Syrien überfordert Sie", so Henze, "dann sind Sie in bester Gesellschaft mit 95 Prozent der Bundestagsabgeordneten."
Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, versucht diese Überforderung aufzulösen, in dem er dem Publikum sieben Thesen über die Situation im Nahen und Mittleren Osten vorstellt. Diese Faktoren haben seiner Meinung nach den Weg dorthin geebnet, wo sich der Konflikt mittlerweile befindet:
- Ordnungszerfall
Laut Volker Perthes sind viele Staaten der Region entweder bereits zerfallen oder stark davon gefährdet. Das habe dazu geführt, dass die normative und moralische Ordnung, die Kultur der Ko-Existenz, die in einigen der Staaten gut funktioniert habe, stark unter Druck geraten sei. Die Region zwischen Marokko und Iran befände sich in der ersten Phase einer tiefen Umwälzung, die 2011 begonnen habe und deren Ende im Augenblick noch nicht absehbar sei.
- All politics are local
Die Konflikte haben lokale Ursachen, die immer mit der Einbeziehung und Ausschließung verschiedener Gruppen zu tun habe. Der Arabische Frühling sei zwar gescheitert, doch seien die Themen, die vor mehr als fünf Jahren angesprochen worden waren, immer noch da. Systeme, in denen Menschen ausgeschlossen werden, seien immer instabil und auf der Suche nach Stabilität käme es vor, dass sich die Menschen anderen, älteren und vorgeblich stabileren Ideologien zuwenden würden.
- Geopolitik
In Nahen und Mittleren Osten gäbe es keine stabile Machtbalance und auch keine dauerhaften Allianzen. Die Geopolitik sei sehr beweglich, so Perthes. Früher habe der israelisch-palästinensische Konflikt die Diskussion bestimmt, heute läge der Fokus eher auf dem Kampf um die Vorherrschaft zwischen den Saudis und Iran und natürlich dem Krieg in Syrien.
- Krieg in Syrien
In Syrien kämen alle sozialen, konfessionellen und ideologischen Faktoren wie unter einem Brennglas zusammen. Sechs Luftwaffen würden im syrischen Luftraum agieren – die deutschen Tornados in ihrer Aufklärungsmission nicht mit eingeschlossen. "In Syrien spielt sich die größte humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts ab", so Perthes.
- Waffenruhe
Es gäbe keinen Konsens der "starken Mächte". Die Saudis und die Iraner seien nur daran interessiert, ihren Konflikt auszutragen und die westlichen Mächte würden sich allein darauf konzentrieren, die Auswirkungen des Konflikts – beispielsweise in Form von Flüchtlingen und Terrorismus – von ihren eigenen Grenzen fernzuhalten.
- Terrorismus
Die Politik im Syrien-Konflikt dürfe nicht mehr nur im Rahmen der Terrorismus-Bekämpfung stehen. "Mit einem Militär besiegt man keine Ideologie. Man bekommt nur einen IS 2.0", sagt Perthes. Stattdessen bräuchte Syrien eine politische und demokratische Lösung.
- Die deutsche und die europäische Politik
Die deutsche und die europäische Politik müsse sich mehr um diplomatische Lösungen in, zwischen und mit den Staaten bemühen. Dafür bräuchte man jedoch Geduld und einen langen Atem, was bereits die Verhandlungen über das Atomabkommen mit Iran gezeigt hätten – daran arbeiteten Diplomaten 13 Jahre lang.
Die verbreitete Ansicht, dass Europa ein strategisches und wirtschaftliches Interesse an dem Krieg gehabt haben könnte, wies Perthes entschieden zurück. "Mit dem Krieg verdienen Europäer kein Geld, er hat sie eher beschädigt. Sie hätten ihre strategischen Interessen in der Region besser ohne den Krieg durchsetzen können", so Perthes. Er weist die Existenz von ausländischen Mächten, die ein Interesse an dem Konflikt in Syrien haben, jedoch nicht gänzlich zurück: Syrien sei ein wie Schachbrett für die Saudis und die Iraner, die Türkei und Katar. "In Syrien hat sich ein Sprichwort verbreitet, das besagt: Die Saudis und Iraner bekriegen sich gern bis auf den letzten Syrer."
In Hinblick auf die schwierige Frage, mit wem überhaupt verhandelt werden solle, da auf allen Seiten des Konflikts Menschenrechtsverletzungen begangen worden seien, zeigte Perthes eine sehr pragmatische Sicht auf die Dinge. "Unsere Partner sind gleichzeitig Teil der Lösung und Teil des Problems, aber man muss mit ihnen zusammenarbeiten, denn ohne Partner kommen wir erst recht nicht voran." Er ist der Ansicht, dass Isolieren und Ignorieren bestimmter Gruppen keinen Erfolg bringen könnte – stattdessen setze er sich lieber mit schwierigen Partner an einen Tisch und arbeite mit ihnen an einer Lösung. Und das kann ganz wörtlich gesehen werden, ist Perthes doch seit September 2015 auf Wunsch von Staffan de Mistura Mitglied der Vermittlerrunde zwischen dem syrischen Regime und den als gemäßigt geltenden Rebellengruppen.
Mazen Darwish hat am eigenen Leib erfahren müssen, wie hart in Syrien demokratische und liberale Ideen unterdruckt wurden: 2008, noch vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings, und dann erneut 2012 saß er in einem von Assads Gefängnissen, bis er 2015 auf Druck von "Reporter ohne Grenzen" freikam und in Deutschland Asyl bekam. "Ich hätte niemals erwartet, dass sich Syrien zum Schlachtfeld für die ganze Welt entwickelt", sagt Darwish. Aus seiner Sicht tragen die westlichen Mächte eine Mitschuld am Status Quo: Die zivilen, demokratischen Kräfte, die zu Beginn der Demonstrationen einen liberalen Staat forderten, seien allein gelassen worden und hätten keine richtigen Partner gefunden. "Deswegen hat der Terror gegen die Aktivisten die Oberhand gewonnen", so Darwish. Den könne man jedoch nicht – darin sind sich alle drei Männer einig – ausschließlich militärisch besiegen. Ein Militäreinsatz sei wichtig und der erste Schritt. Man brauche aber einen politischen Plan für den Staat, der alle Bürger einschließt. "Ohne demokratische Lösungen kann man den Terrorismus nicht besiegen, was Al Quaida und der Islamische Staat im Irak gezeigt haben", sagt Darwish.
Der einfache Syrer, der in Frieden und Würde leben möchte, habe keine Lobby, er sitze nicht in Genf am Verhandlungstisch – ein Umstand, den auch Staffan de Mistura, der Sondergesandte der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga für Syrien, beklagt. Er sieht es als seine Aufgabe an, diesen Syrern eine starke Stimme zu geben. Weil zum Beispiel die Position der Frauen bei den Verhandlungen unterbesetzt ist, hat de Mistura einen Beraterstab aus syrischen Frauen verschiedener politischer und religiöser Couleur ins Leben gerufen, um auch ihre Vorstellungen und Ansichten vertreten zu können. Aus seiner Sicht ist die Einbindung der Zivilgesellschaft in das Geschehen unbedingt notwendig, um eine tragfähige Lösung zu entwickeln. Das sieht auch Mazen Darwish so, der sich für die syrische Bevölkerung eine Art Kontrollfunktion wünscht: Sie sollte die Möglichkeit bekommen, über die Vorschläge, die in Genf erarbeitet werden, abzustimmen und sie gegebenenfalls auch ablehnen zu können. Das syrische Volk, so Mazen, sollte nicht länger Beiwerk in den Verhandlungen sein.
"Ich habe niemals so eine Tragödie gesehen wie in Syrien"
Ganz so dringend ist die Teilnehme der Zivilgesellschaft am Verhandlungsprozess für de Mistura noch nicht. Es sei schließlich noch niemand wirklich dazu bereit, über Frieden zu reden. Alle Parteien seien noch in dem Glauben verhaftet, den militärischen Sieg davon zu tragen oder zumindest die Bedingungen für einen Frieden diktieren zu können. "Krieg wird dadurch gestoppt, dass die, die sich bekriegen, miteinander reden. Dazu sind sie noch nicht in der Lage", so de Mistura und verweist auf die Notwendigkeit von "Proxy-Talks", in denen die Konfliktparteien in unterschiedlichen Räumen sitzen und über einen Vermittler miteinander kommuniziert. Wenn es jedoch so weit sei, dass ernsthaft über Frieden verhandelt werden könne, sagt de Mistura, habe das syrische Volk definitiv einen Platz am Verhandlungstisch.
Staffan de Mistura ist bereits der dritte Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien. Seine beiden Vorgänger hatten aufgegeben, weil die Konfliktparteien aus ihrer Sicht gar keinen Frieden schließen wollten. De Mistura macht diesen Job jetzt bereits seit drei Jahren, insgesamt 46 Jahre hat der 70-Jährige in Diensten der Vereinten Nationen verbracht und dabei 19 Kriege miterlebt. Deshalb hält das ganze Publikum betroffen inne, wenn sich so ein Mann, der in seinem Leben so viele Kriegsschauplätze gesehen hat, ans Rednerpult stellt und sagt: "Ich habe niemals so eine Tragödie gesehen wie in Syrien. Es ist der komplexeste Konflikt der vergangenen 50 Jahre. Die Regeln der Menschenrechtskonvention werden nicht eingehalten, beide Seiten greifen gezielt Kinder, Ärzte und andere Helfer an. Sie halten Medikamentenlieferung auf oder lassen alles durch außer die so dringend benötigten Schmerzmittel und Antibiotika." Zehn Länder seien in den Konflikt involviert, der mit dem sogenannten Islamischen Staat ein "neues Monster" geschaffen habe, das sich wie "ein schwarzer Schatten" über Syrien lege und wie Ebola den Körper angreife, wenn er sowieso schon geschwächt sei.
"Ich verzweifle manchmal, wenn ich mir die Situation anschaue", gesteht de Mistura ehrlich und man kann es ihm nicht verdenken. Seine größte Angst sei es, dass Syrien so wie Somalia ende: der Konflikt von aller Welt vergessen, so dass die schlimmsten Verbrechen stattfinden können. Die Menschen dürften sich nicht abwenden "nur weil es zu kompliziert ist". Durch die Flüchtlingskrise, das Eingreifen der Russischen Föderation und dem sogenannten Islamischen Staat sei dieses Schicksal zumindest mittelfristig nicht zu befürchten, haben diese Ereignisse doch als eine Art Weckruf für den Westen gedient, da es sie auf einmal direkt betraf. Trotzdem habe der Westen seinen Einsatz verschlafen, so dass in Astana (Kasachstan) Russland, die Türkei, Iran und Vertreter der syrischen Regierung über eine Deeskalation des Konflikts und eine Einrichtung von Sicherheitszonen diskutiert hätten - ohne einen Vertreter einer westlichen Macht. Auch Volker Perthes ist der Meinung, dass der Westen die Bedeutung des Konflikts nicht oder nur zu spät erkannt und sich hinter einem "das geht uns nichts an" versteckt hat. Die Erwartung sei gewesen, dass sich der Konflikt ausbrenne oder implodiere – stattdessen sei er explodiert und alle hätten es zu spüren bekommen.
Auf die Frage, ob eine Demokratie mit westlicher Prägung denn eine tatsächliche Lösung sein könne oder ob das in der Kultur des Nahen Ostens einfach nicht möglich sei, findet Journalist Mazen Darwish deutlich Worte: "Ich glaube, dass jedes Volk auf diesem Planeten das Recht auf Frieden, Würde und Demokratie hat und dass wir Syrer nichts im Blut haben, was das ausschließen könnte. Wir alle haben das Recht auf Toleranz und gegenseitige Achtung." Der Wiederaufbau Syriens erfolge letztlich nicht nur mit Steinen, sondern mit Menschen, deren Herz für die Demokratie brennt.
Crowdfunding zur Aufklärung der Kriegsverbrechen in Syrien
Zum Schluss richtet sich der Blick der Diskutierenden auch auf das Versagen der internationalen Politik. "Ich war wütend, weil wir mit der früheren Evakuierung von Aleppo so viele Menschenleben hätten retten können", gesteht Staffan de Mistura, der angeboten hatte, die Menschen persönlich aus der belagerten Stadt zu führen und bereit war, dabei sein eigenes Leben zu riskieren. Der Vorschlag wurde jedoch abgelehnt und das Sterben ging weiter. Auch mit der Blockadehaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geht de Mistura hart ins Gericht: "Der Sicherheitsrat sollte legal nicht in der Lage sein, ein Veto einzulegen, wenn es eine humanitäre oder eine Menschenrechtskrise gibt." Die Generalversammlung hat als Protest gegen die Blockade im Sicherheitsrat einen Sonderermittler ins Leben gerufen, der sozusagen als eine Art Staatsanwalt in Syrien Beweise sichern und Verfahren vorbereiten soll, damit nach Ende des Konflikts Recht gesprochen werden kann.
Augenscheinlich haben jedoch nur wenige ein Interesse daran, die Geschehnisse in Syrien aufzuarbeiten: 13 Millionen Dollar bräuchte der Sondergesandte für seine Arbeit – im großen Konzert der internationalen Politik sind das Peanuts, besonders, wenn man bedenkt, auf wie viele Staaten sich diese Summe verteilen könnte. De facto hat die Staatengemeinschaft aber erst neun Millionen zur Verfügung gestellt. Das wollen sich einige jetzt nicht mehr bieten lassen und haben per Crowdfunding dazu aufgerufen, die letzten vier Millionen Dollar durch Spenden zusammenzubringen.
Volker Perthes hat noch ein anderes Anliegen an die Politik: "Christliche Politiker – oder solche, die sich zumindest so nennen – in Deutschland, aber auch weltweit, sollten aufhören zu sagen, dass sie christliche Syrer privilegiert aufnehmen werden. Damit werden syrische Christen als Agenten des Westens angesehen und es stärkt den Konfessionalismus." Auf Verbinden statt Trennen zielen auch seine abschließende Worte ab, in denen er allen Muslimen einen frohen Ramadan wünscht – in einer christlichen Kirche. Und dafür erntet er großen Applaus.