Jubel brandete durch die Menge, die sich vor dem Brandenburger Tor auf der Straße des 17. Junis versammelt hatte. Dabei hatte Kirchentagssekretärin Ellen Ueberschär im Grunde genommen gar nichts besonders Bejubelnswertes gesagt. Nur einen Namen: Barack Obama. Das reichte schon, um die Menge ausrasten zu lassen. Es wirkte fast so, als warten die Menschen auf ihren Messias, auf ihren Heilsbringer. Viele Besucher warteten schon seit Stunden, einige hielten Schilder hoch, auf denen "We love you, Mr. President" stand. Sie waren früh gekommen, um sich einen Platz in der Nähe der Bühne zu sichern. Einen Platz bei Barack Obama. Dem Mann, der Amerika und die Welt fasziniert hat und augenscheinlich immer noch fasziniert wie John F. Kennedy, der Mann, der redet, ja fast predigt, wie es Martin Luther King getan hat und der begeistert wie Elvis Presley.
Als der ehemalige US-Präsident dann gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm und Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au die Bühne betrat, drängten sich die Fotografen dicht an dicht für das beste Motiv und die Menschenmassen jubelten frenetisch. Der frühere US-Präsident ist die Begeisterung gewohnt, seine Gestik routiniert: den linken Arm zum Gruß erheben, in die Runde schauen, lächeln. Dann eine kurze Drehung, damit ihn auch die anderen sehen können. Und trotzdem wirkte er ehrlich erfreut, dass so viele Menschen gekommen sind, um ihn und Bundeskanzlerin Angela Merkel diskutieren zu hören.
Er begrüßte die rund 70.000 Menschen mit einem fröhlichen "First of all: Guten Morgen" auf Deutsch und sonnte sich in der Begeisterung der Menge. Er ist der Superstar des Kirchentags und er weiß es. Und selbst der vormals mächtigste Mann der Welt braucht anscheinend hin- und wieder das Gefühl, geliebt zu werden. In Berlin, wo er schon vor seinem ersten Wahlsieg 2008 an der Siegessäule wie ein Popstar gefeiert wurde und wo er in Angela Merkel eine "Freundin" gefunden hat, ist er da an der richtigen Adresse.
Ob dieser Kirchentag für die Bundeskanzlerin etwas Besonderes sei, möchte Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au als erstes wissen und spielte damit mehr oder minder gut versteckt auf den Hype an, den Barack Obamas Zusage zum Kirchentag ausgelöst hatte. Die Kanzlerin, die Hände wie immer zur Raute aneinandergelegt, schluckte den Köder jedoch nicht und hob stattdessen lieber auf das (eigentlich) wichtigere Ereignis des Kirchentags ab: 500 Jahre Reformation. Damit stellte sie von Anfang an klar: Heute sollte es nicht um das Kleinklein der alltäglichen Politik gehen, sondern um das große Ganze. Es kann auch als kleiner Seitenhieb gegen jene verstanden werden, die ihr vorgeworfen haben, mit dieser Debatte betreibe sie nur Wahlkampf. Und Merkel war sogar zu Scherzen aufgelegt: Fast zur gleichen Zeit wie der Thesenanschlag hätte ja auch praktisch die deutsch-amerikanischen Beziehungen angefangen – nämlich mit Christoph Kolumbus‘ Entdeckung Amerikas. Obama fand’s witzig – wenn auch mit Zeitverzögerung, weil die Übersetzung eine halbe Minute brauchte.
Abschiebungen kommen beim Kirchentagspublikum schlecht an
Und schon zu Beginn der Diskussion wurden sowohl Barack Obama als auch Angela Merkel persönlich. Der Ex-US-Präsident erinnerte daran, dass es zum Zeitpunkt seiner Geburt noch den Eisernen Vorhang, die Berliner Mauer, die Apartheid und viel mehr Diktatoren gegeben habe. Seitdem habe die Welt große Fortschritte und Frieden gesehen. "Junge Menschen nehmen das manchmal als gegeben hin", merkte der 55-Jährige an. Prinzipien wie der Rechtsstaat, die Würde des Einzelnen, die Pressefreiheit, die Freiheit der Religionen und eine globale Marktwirtschaft seien aber eben nicht so selbstverständlich, wie viele junge Menschen glaubten, sondern müssten kontinuierlich verteidigt werden. Und das nicht nur im eigenen Land, sondern auch auf der anderen Seite der Welt, denn auch das geschehen dort habe Einfluss auf jeden einzelnen. Es falle irgendwann auf das eigene Leben zurück. Mit Blick auf zunehmende nationalistische und antidemokratische Strömungen müsse man sich hinter die Grundrechte stellen.
Dieses Anliegen war auch für Bundeskanzlerin Merkel wichtig. Sie erzählte davon, wie der Mauerbau ihr Leben und das ihrer Eltern auf den Kopf gestellt habe. Doch die Tatsache, dass Menschen weiter für die deutsche Einheit gekämpft hätten, obwohl sie unerreichbar schien, habe ihr Kraft und Mut gegeben. "Die Geschichte besteht auch aus Rückschlägen. Aber man muss nach vorne gucken", so Merkel in Erinnerung an all die Menschen, die nach vorne geschaut und die deutsche Wiedervereinigung so möglich gemacht hätten.
Der Blick nach vorne richtete sich auch unweigerlich auf eine der größten Herausforderungen der vergangenen Jahre, die die Kanzlerin zu bewältigen hatte: Die Flüchtlinge, die zu hunderttausenden nach Europa geströmt sind, um hier Schutz vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Armut zu finden. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sprach von dem Unverständnis vieler Helfer, die nicht verstehen könnten, warum Menschen, die sich integriert und die ihren Platz in den Gemeinden und der Gemeinschaft gefunden hätten, abgeschoben werden. "Das gehört zu den Themen, die am schwierigsten sind, wenn sie Bundeskanzlerin oder Innenminister sind", sagte Merkel. Ihr Bestreben sei es, Klarheit zu schaffen: Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis müssten schneller in die Heimatländer zurückgeschickt werden und es dürfte ihnen keine falschen Hoffnungen auf eine Zukunft in Deutschland gemacht werden. Diese Position kritisierte das Publikum mit lauten Buh-Rufen.
Politiker-Antworten: Ernüchternd statt hoffnungsvoll
Deutlich gnädiger waren die Menschenmassen mit Obama, der Merkel im Prinzip zwar beipflichtete, es aber geschickter verpackte: "In Gottes Augen ist ein Kind auf der anderen Seite der Grenze nicht weniger Wert, geliebt und beschützt zu werden. Aber als Staatoberhäupter haben wir auch eine Verpflichtung gegenüber unseren Bürgern und wir haben auch nur begrenzte Ressourcen." Man müsse den Menschen in ihren Heimatländern Chancen und eine Perspektive bieten, was die USA mit ihrer Entwicklungshilfe bereits versuchten. "Wir tun das auch aus Nächstenliebe und Mitleid, aber nicht nur. Es ist auch in unserem eigenen Interesse. Wir können uns nicht einfach hinter einer Mauer verstecken", sagte Obama entschlossen. Vor der Kulisse des Brandenburger Tors, vor dem Jahrzehnte zuvor US-Präsident Ronald Reagan den russischen Präsidenten Michail Gorbatschow dazu aufgefordert hatte, dieses Tor zu öffnen und diese Mauer niederzureißen, wirkten seine Worte noch eindringlicher.
Doch genauso eindringlich und berechtigt war die Frage von der Sozialarbeiterin Filiz Kuyucu: "Haben wir uns an das Sterben im Mittelmeer gewöhnt? Und was werden sie dagegen tun?" Die junge Frau aus Mannheim war eine von vier jungen Menschen – zwei aus den USA und zwei aus Deutschland – die gegen Ende der Veranstaltung jeweils eine Frage an die beiden Politiker richten durften. Die Antworten darauf – ernüchternd.
Merkel verwies auf das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, das Flüchtlingen das Leben gerettet haben soll und auf die Aufbauarbeiten in Libyen, die jedoch länger dauerten als erhofft. Sie verteidigte ihre Politik, für die sie schon so häufig kritisiert worden war. Ex-Präsident Obama, der nur noch sehr begrenzt in die aktive Politik eingreifen und etwas für die Flüchtlinge tun kann, hob auf die Metaebene ab: "Wenn wir die Konflikte reduzieren können, die solche Flüchtlingskrisen auslösen, retten wir die meisten Leben." Damit niemand auf die Idee kommen könnte, dass das einfach sei oder dass die USA mit diesen Bestrebungen ja vielleicht als Vorbild vorangehen könnten, fügte er jedoch hinzu: "Wir müssen aber auch ehrlich mit uns selbst sein: die Eliten und die jungen Menschen in diesen Ländern müssen den Bärenanteil dieser Arbeit leisten. Wir können das nicht von außen lösen, sondern nur Hilfe anbieten."
Zu viel Glauben in der Politik? Geht nicht!
Die Diskussion, die von dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, und der Kirchentagspräsidentin Christina aus der Au geleitet wurde, beschäftigte sich auch mit der Frage, ob es zu viel Glauben in den Politik geben könne. Das verneinten beide Politiker. Obama wies jedoch auf die Gefahr hin, dass manche Gläubige, die in ihrem Glauben keine Kompromisse zulassen, diese Haltung auch in die Politik trügen und das in einer Demokratie, die in vielen Fällen auf Kompromissen basiere, nicht funktionieren könne. "Ich versuche, in meinem Glauben Bescheiden zu bleiben. Ich glaube nicht daran, dass ich immer richtig liege", so der ehemalige US-Präsident. Denn dieses vermeintliche Monopol auf die Wahrheit führe in vielen Fällen zu Gewalt. Obama riet dazu, eines immer im Hinterkopf zu behalten: "Jeder sieht nur einen Teil der Wahrheit." Wer andere Meinungen in Glaubensfrage nicht aushalte und dem Gegenüber nicht mit Respekt begegnen könne, sei im Glauben nicht sonderlich gefestigt.
Dem stimmte auch Angela Merkel zu. Ihr gebe der Glaube die Freiheit, Fehler zu machen, was in ihren Augen wiederum zu Demut führe und den Blick auf die Stärken der anderen zu richten. Das sei für das Zusammenleben sehr hilfreich. "Die Religion darf sich aber nicht so erheben, dass daraus eine andere Wertigkeit der Menschen entsteht. Die Würde des Menschen ist unantastbar", betonte die Kanzlerin, die kurzzeitig für Erheiterung sorgte, als sie den ersten Artikel des Grundgesetzes falsch zitierte.
Obama zur Drohnenfrage: "Das Problem ist der Krieg"
Vollkommen ernst wurde es wieder, als der Mannheimer Benedikt Wichtlhuber den Präsidenten auf den Einsatz von Drohnen ansprach. Obama, den einige schon lange abwertend als "Drohnenmörder" bezeichnet haben, versuchte seine Position zu erklären und warb für Verständnis: Man kämpfe hier nicht gegen Staaten, die Kriegsführung sei eine andere. "Diese Menschen wären bereit, eine Bombe in unserer Mitte zu zünden. Sie verabscheuen unsere Lebensweise uns alles, wofür wir stehen. Und wir haben die Aufgabe, die Menschen zu beschützen. Das versuchen wir auf eine Weise zu tun, die nicht noch mehr Gewalt hervorruft."
Das Problem seien jedoch nicht die Drohnen. "Das Problem ist der Krieg", so Obama. Das sah Merkel ähnlich. Die Drohnen führten jedoch dazu, dass die Kriegsführung unpersönlicher werde und in dieser Situation seien die Werte, die unser Handeln leiten, umso wichtiger und vielleicht sogar wichtiger als früher. Beide Politiker sprachen sich für mehr Anstrengungen für den Frieden in der Welt aus. "Abrüstung muss auf der Tagesordnung bleiben", sagte Merkel. "Man darf auch die Ziele nicht vergessen, die gerade unwahrscheinlich erscheinen: eine Welt ohne Atomwaffen." Eine militärische Auseinandersetzung dürfe immer nur das letzte Mittel sein.
Insgesamt war der Auftritt Barack Obamas am Brandenburger Tor nicht der eines Heilsbringers. Die Menschen waren nicht so gefesselt von ihm, wie noch vor neun Jahren, als er ihnen vor der Siegessäule versprach: "Yes, we can." Sie sind ernüchtert. Der Auftritt war auch nicht so emotional wie der 2015, als Barack Obama bei der Trauerfeier für Opfer der Schießerei in einer Charlestoner Kirche spontan das Volkslied "Amazing Grace" anstimmte, dessen Text unter anderem so lautete: "Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich." Barack Obama ist von vielen gesehen worden, doch sein Auftritt wird vermutlich eher nicht in die Geschichtsbücher eingehen.