Die Schlange von Menschen mit ihren Rucksäcken und Fotoapparaten reicht die Straße vor dem Haus an der Prinsengracht 263 entlang bis um die Ecke. Das Hinterhaus, in dem sich das jüdische Mädchen Anne Frank zusammen mit ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs zwei Jahre lang versteckt hielt, wollen alle Touristen in Amsterdam sehen.
Zur jüdischen Geschichte der Stadt gehört aber viel mehr als das Schicksal der Familie Frank. Um Besuchern und Bewohnern diese Vergangenheit nahe zu bringen, wurde das ehemalige jüdische Zentrum rund um den Waterlooplein restauriert und vor fünf Jahren in das "Joods Cultureel Kwartier" verwandelt.
Der Waterlooplein ist einer der lebendigsten Plätze des jüdischen Viertels – zumindest an den sechs Tagen der Woche, an denen Flohmarkt ist. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird hier Handel getrieben, damals vor allem durch jüdische Händler. Heute herrscht ein reges Treiben aus Verkäufern und Kunden aller Nationalitäten.
John Schoonhoven und Eef Tokkie verkaufen seit fast 50 Jahren Geschirr, Schächtelchen und anderen Nippes auf dem Markt. "Das ist für Chanukka", erklärt Schoonhoven und deutet auf den neunarmigen Kerzenständer, der inmitten der Trödelsachen auf seinem Tisch steht. Seine Kunden sind vor allem Touristen aus der ganzen Welt. Auch viele Israelis kämen auf dem Markt vorbei und alte Juden, die noch in Amsterdam leben. "Der Markt hat für viele auch eine soziale Bedeutung".
Direkt auf der anderen Straßenseite des Markts, im Jüdischen Historischen Museum, informieren sich Besucher über die jüdische Geschichte in Amsterdam und den Niederlanden. Chronologisch erzählt die Ausstellung von der ersten Generation der Juden, die im 17. Jahrhundert in die Niederlande floh, weil sie in ihrer Heimat wegen ihrer Religion verfolgt wurde, bis hin zum jüdischen Leben in den Niederlanden heute.
Das Museum ist in einem alten Synagogenkomplex untergebracht, dessen ältesten Teil Elias Bouman im Jahr 1671 entworfen hat. Heute verschmilzt das Interieur des Gotteshauses mit Informationstafeln und Alltagsgegenständen, die die jüdischen Bräuche illustrieren.
Eine Schulklasse aus dem Norden Hollands ist hier als Teil einer Reihe im Religionsunterricht. "Weiß jemand, was Sabbat ist?", fragt die Museumsführerin. Erst bleibt es still, dann murmelt ein blonder Junge etwas von Freitag- bis Samstagabend. Neben den jüdischen Feiertagen lernen die Schüler auch die Sitzordnung in der Synagoge kennen und informieren sich über das so genannte "Goldene Zeitalter" der jüdischen Gemeinde – zwischen Mitte des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Gemeinde in Amsterdam zu einer der wichtigsten in Westeuropa.
Eine gläserne Brücke führt in den zweiten Teil der Ausstellung, die sich mit der neueren jüdischen Geschichte und dem Holocaust auseinandersetzt. Dreiviertel der rund 140.000 niederländischen Juden wurden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Mit Alltagsgegenständen wie Brettspielen, Nähzeug und Ladenschildern bringt die Ausstellung den Besuchern das Leben der jüdischen Bewohner und ihr späteres Schicksal eindringlich nah. In Videointerviews kommen außerdem Überlebende zu Wort, die von ihrer Rückkehr und dem Leben nach dem Zweiten Weltkrieg erzählen.
Eindrücke vom heutigen jüdischen Leben in Amsterdam erhalten Besucher auch in der großen Portugiesischen Synagoge neben dem Museum. Das Gebäude aus dem Jahr 1675 wird immer noch als Gotteshaus genutzt.
Michael ist mit seiner Frau und seinem Sohn auf der Durchreise von Kalifornien nach Israel. Um seinen linken Arm und seinen Kopf hat er die jüdischen Gebetsriemen, die "Tefillin", gewickelt, während er seinen Oberkörper zur Mauer der Synagoge vor- und zurückbeugt. "Es ist inspirierend, hier zu beten", erzählt er auf Englisch. "Ein einmaliges Erlebnis. Diese Synagoge hat so viele Jahrhunderte und Unruhen in Europa überdauert."
Neben den Betenden drängen sich Touristengruppen durch das Gotteshaus. Sie werden ermutigt, auf Entdeckungstour zu gehen: "Fühlen Sie sich frei, Türen zu öffnen", sagt die Frauenstimme im Audioguide. Neben dem Hauptgebäude der Synagoge mit dem riesigen Thoraschrein aus Palisander sind auch die Nebengebäude fast alle offen zugänglich. So gibt es unter anderem eigene Räume für die Kerzenvorräte – zwei Stunden dauert es, alle Kerzen in der Synagoge anzuzünden, die ohne Heizung und Elektrizität auskommt –, eine kleine Wintersynagoge für die kalten Monate und die Bibliothek Ets Haim, die als die älteste noch aktive jüdische Bibliothek der Welt gilt.
Außer der Portugiesischen Synagoge und dem Jüdischen Historischen Museum gehören das Holocaust Museum, die Hollandsche Schouwburg als Holocaust-Gedenkort und das Jüdische Historische Kindermuseum zum "Joods Cultureel Kwartier". Wer aufmerksam durch Amsterdam geht, findet aber auch außerhalb dieses Gebiets Zeugnisse des jüdischen Lebens. So zum Beispiel die Asscher Diamantenfabrik im Stadtteil De Pijp, das Tuschinski Theater, ein heute noch sehr beliebtes Kino in der Nähe des Blumenmarkts und das ehemalige jüdische Pflegeheim "De Joodse Invalide" am Weesperplein, in dem mittlerweile der "Gemeentelijke Gezondheitsdienst", eine Art staatliches Gesundheitszentrum, untergebracht ist.
Heute leben fast die Hälfte der 43.000 Juden in den Niederlanden in und um Amsterdam. Das alltägliche jüdische Leben hat sich aus dem Zentrum der Stadt heraus in den Süden verlagert. Vor allem im Stadtteil Buitenveldert und im angrenzenden Amstelveen finden sich viele Synagogen, jüdische Schulen und koschere Geschäfte. Zum jüdischen Alltag gehören aber in Amsterdam genauso wie in Deutschland Videoüberwachung und Polizeistreifen. 70 Jahre nach dem Holocaust soll damit staatlicher Schutz gewährleistet werden.