Eine alte, Grafiti-besprühte Halle des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerks, auf dem RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain. Draußen ist es Januar in Berlin und typisch eklig, nass und kalt. Drinnen wummern House-Musik-Bässe. Langsam füllt sich der dunkle Raum, die Nervosität steigt.
Die Musik verstummt, die Modenschau geht los. Ein Model nach dem anderen schlendert lässig durch den Raum und präsentiert sich und seine Kleidung den 300 Gästen und den Fotografen. Vom bauschigen, aufwändig geschnittenen, hellblauen Kleid zum schlichten, asymetrischen, sandfarbenen Herren-Dress, die Zuschauer sehen beeindruckt aus. Überraschende Motive zieren die Kleidungstücke: unter anderem ein in rot und schwarz gehaltenes, glänzendes Männer-Outfit mit riesigen, darauf abgebildeten Schweine-Steaks sticht heraus.
"Vergiss das, das schaffst du doch nie!"
Dann stürmt ein sehr bunter, sehr aufgeregter Haufen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf den Laufsteg und lässt sich feiern. Da sind sie also, die Hauptpersonen des Abends: Die Modedesigner. Und zwar ganz besondere: Es sind Jugendliche aus Berlin und Amsterdam, die vor einiger Zeit teilweise noch auf der Straße lebten, zum Teil kriminell oder drogenabhängig waren, psychische Probleme hatten. Jugendliche, die unter sehr schwierigen Lebensbedingen zu leiden hatten und teilweise immer noch leiden – und die nun von ihnen selbst kreierte Mode mit stolzgeschwellter Brust auf einer professionellen Fashion-Show in Berlin präsentieren durften.
"Es ist unglaublich. Vor sechs Jahren lungerte ich herum und machte gar nichts, und heute bin ich als Designer auf einer Modenshow in Berlin", strahlt mich Jack aus Amsterdam an. "Alle kennen mich nur als jemanden, der immer negativ ist, nur negative Gedanken hat, aber jetzt, hier in Berlin, bin ich einfach nur glücklich", fügt er hinzu. Valerie, ebenfalls aus Amsterdam, erzählt: "Ich hatte immer den Traum, Mode zu machen. Aber alle haben immer zu mir gesagt, 'Vergiss das, das schaffst du doch nie!'. Ich hatte eine sehr schwere Kindheit, aber jetzt weiß ich, dass man sich niemals von seinem Ziel abbringen lassen soll. Denn schau her, jetzt mache ich Mode und kann sogar ein wenig Geld damit verdienen!"
Jack und Valerie kommen beide aus prekären Lebenverhältnissen, was genau sie erlebt haben sowie ihr Alter und ihren Nachnamen möchten sie nicht sagen. Heute jedenfalls stehen beide auf eigenen Füßen, Valerie geht zur Schule und jobbt, Jack baut sich gerade ein Leben als Graffiti-Künstler auf. Und beide gehören seit Jahren zum Team des niederländischen Modestudios "Rambler".
"Eine besondere Art, sich zu kleiden"
Das Start-Up wurde vom quirligen Niederländer Tim Dekker und der engagierten Carmen van der Vecht 2010 in Amsterdam gegründet. "Meine Geschäftspartnerin Carmen hatte eine Fotoreportage über Straßenkinder und wohnungslose Jugendliche aus der ganzen Welt gemacht. Als gelernte Designerin fiel ihr auf, dass diese Jugendlichen eine besondere Art haben, sich zu kleiden. Sie schlug vor, dieses kreative Potenzial für neue Streetwear-Designs zu nutzen. Und ich sagte: Sehr gut! Und das kombinieren wir dann mit Jugend- und Sozialarbeit!", erzählt Tim Dekker.
Tim Dekker kennt sich als Berater für Unternehmensgründer gut mit öffentlichen Fördermöglichkeiten aus. Die Expertise in der Sozialarbeit holten sich die beiden mit der Organisation "Street Corner Work" an Bord, die sich in Amsterdam um wohnungslose Jugendliche kümmert.Und so entstand 2010 im Zentrum Amsterdams das städtisch geförderte soziale Modestudio Rambler.
Das Studio dient vor allem als Anlaufstelle für junge Menschen in prekären Lebenssituationen, meist ohne Obdach und mit Schwierigkeiten, sich an andere soziale Einrichtungen zu binden. Vor Ort sind immer zwei Sozialarbeiter von Street Corner Work, einer für die praktischen Fragen des Alltags - Behördengänge etc. - und einer für die Aufarbeitung der Vergangenheit. Gleichzeitig können die Jugendlichen im Studio mit Hilfe eines professionellen Designers von Rambler das Modehandwerk erlernen und eigene Ideen umsetzen.
Zurück zu Wohnung und Bildung
Die fertigen Produkte werden im Laden verkauft, wobei zehn Prozent des Verkaufserlöses direkt an die Jugendlichen gehen. Ein erfolgreiches Konzept. Von den rund 150 jungen Menschen, die jährlich Kontakt zu Rambler aufnehmen, kann rund ein Viertel duch die Hilfe der Sozialarbeiter zurück in feste Wohnsituationen und in Bildungsinstitutionen gebracht werden. Und auch die Mode profitiert von dem kreativen Input der Streetkids: "Unsere Kollektionen sind im Laufe der Jahre so gut geworden, dass wir jetzt nach Berlin expandieren können", schwärmt Tim Dekker.
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Die Fashion-Show in Friedrichshain ist ein erster Test für Ramblers Expansionsidee. Die Show wurde gemeinsam mit der Berliner Jugendhilfe-Einrichtung "Neue Chance" organisiert, die u.a. junge Menschen in Notsituationen im betreuten Wohnen unterbringt. Bereits im Herbst fanden dafür – finanziert durch das EU-Programm Erasmus+ – mehrwöchige Workshops mit Jugendlichen aus Amsterdam und 25 jungen Klienten der Neuen Chance statt.
Gemeinsam mit professionellen Designern von Rambler wurde die Kollektion für die Fashion-Show entwickelt. Sascha aus Berlin nahm an den Workshops teil und ist stolz, sein Design des Berliner Fernsehturms auf dem Laufsteg zu sehen: "Das Projekt hat mir geholfen, die ganzen sozialen Sachen auf den Schirm zu kriegen, es tritt einem da jemand ein wenig in den Arsch. Und man lernt, dass man etwas wert ist, dadurch dass man etwas gestaltet und bis zum Ende durchzieht. Schon Wahnsinn, wie viele Leute das heute hier sehen, was ich gemacht habe."
"New York, wir kommen!"
Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Rambler will die Neue Chance noch in diesem Sommer mit Hilfe von Stiftungsgeldern im Berliner Stadtteil Friedrichshain das zweite Rambler-Studio eröffnen. Wie in Amsterdam sollen immer zwei Sozialarbeiter und ein professioneller Modedesigner von Rambler vor Ort sein. Und natürlich soll auch hier Streetwear-Mode entstehen, die im Studio verkauft wird.
Zielgruppe sind wohnungslose Jugendliche, die von den klassischen Hilfsangeboten der Stadt nicht oder nur unzureichend erreicht, und bislang auch nicht von der Neuen Chance betreut werden. Für die Jugendlichen aus Berlin, die die Fashion-Show mitgestaltet haben, ist demnach erstmal Schluss mit Rambler. Für Sascha ist das kein Problem, denn er hat schon weitergehende Pläne: "Ich hab die Idee, aus meinen Motiven zum Beispiel Aufdrucke für T-Shirts oder Taschen zu machen. Damit kann man ja ganz gut Geld verdienen!"
Ingo Bullermann, Geschäftsfüher von Neue Chance, ist davon überzeugt, dass das neue Studio eine Bereicherung für die Jugend- und Obdachlosenhilfe in Berlin sein wird. Die Kooperation zwischen gemeinnützigen und kommerziellen Aktivitäten könne einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme leisten, sagt er: "Bei dem Projekt mit Rambler schauen die Jugendlichen nicht mehr nur auf ihre Probleme sondern sind produktiv und zwar nicht nur im Sinne irgendeiner Bastelei. Es geht um einen viel größeren Maßstab – die Modewelt! Das verleiht dem Ganzen natürlich viel mehr Gewicht und Ernsthaftigkeit. Öffentliche Einrichtungen könnten so etwas alleine gar nicht stemmen."
Wie ernsthaft das Projekt ist, zeigen die Ziele, die Rambler noch hat: Langfristig sollen nicht nur in Amsterdam und Berlin sondern auch in London, Sao Paulo, New York und Tokio Studios eröffnet werden. Die Marke soll langsam aber stetig so bekannt werden, dass sie sich von alleine trägt. Der Amsterdamer Graffiti-Künstler Jack ist überzeugt, dass das klappt: "New York, wir kommen!" ruft er zum Abschied und zwinkert.