Für den Berliner Historiker Manfred Gailus ist Otto Dibelius die Figur der Berliner Kirche des 20. Jahrhunderts. Über vier Jahrzehnte in den 1920er bis 1960er Jahren hat Dibelius eine beherrschende Rolle gespielt. Er entstammt einer preußischen Beamtenfamilie. Erste Stationen seines pastoralen Wirkens waren Guben, Danzig und Lauenburg in Pommern. Bald machte er Karriere in Berlin, wurde 1925 Generalsuperintendent der Kurmark.
"Dibelius war in der Weimarer Republik Mitglied der deutsch-nationalen Volkspartei, die zweifellos mit zu den Totengräbern der ersten deutschen Demokratie zählt", sagt Gailus. Die Machtergreifung Adolf Hitlers begrüßte Otto Dibelius ausdrücklich. Beim Tag von Potsdam am 21. März 1933 hielt der führende evangelische Geistliche die Festpredigt. Für Gailus war das ein großes Ja zum politischen Umschwung, keine distanzierende Predigt und schon gar keine Widerstandspredigt. Dass zu diesem Zeitpunkt die politischen Gegner bereits zu Tausenden in den SA-Folterkellern verschwanden, erwähnte der Berliner Theologe nicht. Reichsminister Hermann Göring bedankte sich für die beste Predigt, die er jemals gehört habe, erinnerte sich Dibelius später. Allerdings fragte er auch lakonisch, wie viele Predigten der spätere Reichsmarschall denn überhaupt schon in seinem Leben gehört habe.
Dibelius begrüßte den Kampf gegen alles Jüdische. So hatte er beispielsweise 1928 ein Rundschreiben an seine Pfarrer verfasst. Darin heißt es, dass er sich schon immer als Antisemiten begriffen habe, denn das Judentum spiele bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation eine führende Rolle. Auch hielt Otto Dibelius auf Wunsch von Joseph Goebbels im April 1933 eine Rundfunkansprache, die an die USA gerichtet war. Darin beschwichtigte er jegliche Sorge wegen des Judenboykotts, der erstens in absoluter Ruhe und Ordnung verlaufe und zweitens ein Akt berechtigter deutscher Notwehr darstelle.
Allerdings dürfe man Otto Dibelius nicht einfach nur in eine rechtskonservative Kirchenecke stellen und ihn allein aus Sicht seiner heutigen Kritiker betrachten, meint Kirchenhistoriker Hartmut Ludwig. So setzte Dibelius sich 1930 in seinem Buch "Friede auf Erde" für eine geradezu visionär neue Zusammenarbeit der Nationen und der Welt-Kirchen ein. "Dibelius leitete in Deutschland eine Arbeitsgemeinschaft für den Völkerbund und setzte sich für eine Revision der Sicht von Krieg und Frieden in der evangelischen Kirche ein", sagt Ludwig.
Otto Dibelius' steile Karriere
Es waren Dibelius' Friedensideen, die der Ökumenische Rat in Amsterdam 1948 wieder aufnahm. Otto Dibelius galt damit vielen Konservativen als Vaterlandsverräter, weil er sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzte. Auch ging Otto Dibelius in Opposition zu den Deutschen Christen und arbeitete im Brandenburger Bruderrat der Bekennenden Kirche mit. Dafür kam Dibelius mehrfach in Haft, erzählt der evangelische Theologe und Journalist Jens Gundlach aus Hannover: "Dibelius bekommt 1937 Predigtverbot und Reiseverbot und wird vor ein Kriminalgericht gestellt, weil er eine Rede von Kirchenminister Hanns Kerrl kritisiert hatte. Kerrl hatte behauptet, Hitler sei als Führer der Künder einer neuen Offenbarung und die Kirche habe Rasse, Blut und Boden als verbindlich zu akzeptieren." Dibelius hatte daraufhin ein Flugblatt gegen Kerrl herausgegeben indem es heißt, dass der NS-Staat sich anmaße, Kirche zu sein. "Dibelius wurde wundersamerweise freigesprochen", sagt Gundlach.
Überraschend auch, dass Otto Dibelius sich zwar antisemitisch äußerte, konkret aber verfolgten Juden half, etwa der nach Nazi-Definition Halbjüdin Senta Maria Klatt, die er als Sekretärin beschäftigte. Nach dem Krieg ging die Karriere von Otto Dibelius steil bergauf. In seiner Person gab es eine so vorher noch nie dagewesene evangelische Machtfülle, ein souveräner Akt der Selbsternennung, wie Historiker Manfred Gailus es nennt. Dibelius war zugleich Bischof von Berlin (ein Titel, den es vorher noch gar nicht gab), Präsident des Konsistoriums, Generalsuperintendent der Kurmark, Generalsuperintendent von Berlin und Präsident des evangelischen Oberkirchenrates der alten preußischen Kirchenleitung. Andere evangelische Kirchenpersönlichkeiten drängte er an den Rand. "Martin Albertz etwa, der Spandauer Superintendent, der eine sehr geradlinige Haltung auch in den Kriegsjahren vertreten hat, dafür jahrelang im Gefängnis gesessen hat", weiß Historiker Gailus.
Otto Dibelius wurde schließlich von 1949-1961 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vor allem ging es dem Berliner Bischof nach 1945 darum, seine Kirche möglichst unbeschadet wieder als gesellschaftlich wichtige Instanz zu etablieren. Jegliche Diskussion über die Verquickung zwischen Nationalsozialismus und Protestantismus unterband er.
"Dibelius steuerte einen Kurs mit großem Verständnis für die ehemaligen Deutschen Christen. Da gibt es die Nazi-Theologen: Joachim Hossenfelder, Leiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen, Karl Themel, der nazimäßige Judenforschung in der Kirche betrieben hat, Walter Hoff, ein extremer Nazi, der sich selbst gerühmt hat, im Ost-Krieg bei der Judenvernichtung geholfen zu haben, Friedrich Tausch, der fanatische Leiter der Deutschen Christen in Berlin. Alle diese Theologen werden auf die eine oder andere Weise wieder in der Kirche aufgenommen", zählt Manfred Gailus auf.
Auch war Otto Dibelius Mitautor des Stuttgarter Schuldbekenntnisses vom Oktober 1945. Darin steht kein Wort über die Mitschuld der evangelischen Kirche an der Judenvernichtung im Dritten Reich. Für Otto Dibelius sei es vor allem darum gegangen, dass die deutsche Kirche international wieder anerkannt werde, sagt Jens Gundlach.
"Er blendete die NS-Zeit einfach aus"
Otto Dibelius, selbst CDU-Mitglied, unterstützte die neue Regierung unter Konrad Adenauer. So wie er zum Machtantritt von Adolf Hitler predigte, so nahtlos konnte Otto Dibelius nun die Festpredigt zur Eröffnung des Deutschen Bundestages in Bonn im September 1949 halten. Für Manfred Gailus war Dibelius ein führender Vertreter eines CDU-Protestantismus, der sich vehement für die Wiederbewaffnung und gegen das SED-Regime in Ostdeutschland einsetzte. "Bischof Dibelius war ein cold-war-bishop, wirklich ein Kalter Kriegs-Bischof", sagt Gailus.
Und Jens Gundlach: "Dibelius hatte die Größe der evangelischen Kirche in Deutschland im Auge. Er blendete die NS-Zeit einfach aus. Er kam damit opportunistisch sowohl dem deutschen Volk als auch den deutschen Eliten entgegen, die einer Selbstreinigung im Wege standen und sich selbst von jeglicher Mitschuld frei sprachen."
Dibelius starb 1967. Heute, 50 Jahre nach seinem Tod, sind sich die drei Fachleute Gailus, Gundlach und Ludwig darin einig, dass es bisher an einer umfassenden Dibelius-Geschichtsaufarbeitung innerhalb der evangelischen Kirche fehlt.