10. November 1933: Deutschland feiert. Feiert den 450. Geburtstag Martin Luthers – rund neun Monate nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Bereits im August 1933 hatte in Eisleben eine "Lutherwoche" stattgefunden, gefolgt von ähnlichen Festtagen in Eisenach und Wittenberg sowie in vielen weiteren deutschen Städten.
Die Festlichkeiten hätten selbstverständlich auch stattgefunden, wenn die Nationalsozialisten zum Jahresbeginn nicht an die Macht gelangt wären. Allerdings hätte der "Deutsche Luthertag 1933" unter demokratisch-republikanischen Vorzeichen bestimmt anders ausgesehen als in Eisleben – oder etwa in der Berliner Philharmonie. Dort wurde zu Ehren des deutschen Reformators eine Feierstunde abgehalten, allerdings erst am 19. November. Denn den "Deutschen Luthertag" hatten die Nationalsozialisten wegen der Volksabstimmung über den deutschen Völkerbundsaustriit kurzfristig um eine gute Woche verschoben. Vor einer Bühnendekoration, die eine Kombination aus "Lutherrose", christlichem Kreuz und Hakenkreuz zeigte, sprach als Hauptredner der zentralen Berliner Feier einer der führenden deutschen Theologen, Erich Seeberg – spätestens seit 1933 ein auch qua Parteieintritt bekennender Nationalsozialist.
Über die zwölf Jahre hinweg, die das NS-Regime Bestand haben sollte, nahmen Einzelpersonen wie auch staatliche und kirchliche Institutionen, Verbände, Fraktionen und Gruppierungen Luthers "Erbe" für sich und ihre eigenen Zwecke und Zielsetzungen in Anspruch: Protagonisten der Bekennenden Kirche ebenso wie die pro-nationalsozialistischen Deutschen Christen, die etwa im mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Berliner Sportpalast am 28. Februar 1934 eine Kundgebung abhielten unter einem riesigen Spruchbanner mit der Aufschrift: "Für die Vollendung der deutschen Reformation im Geiste Martin Luthers!" Und obwohl Adolf Hitler sich in der Öffentlichkeit in kirchenpolitischen und konfessionellen Fragen eher zurückhielt, nahm er im September 1934 in seiner Rede auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP ausdrücklich auf Luther Bezug, um das "Einigungswerk" zu würdigen, das der "deutsch-christliche" evangelische Reichsbischof Ludwig Müller mit Eifer betrieb.
Die Gegenspieler der Deutschen Christen kamen Ende Mai 1934 in Barmen zur ersten von insgesamt vier während der NS-Zeit abgehaltenen Bekenntnissynoden der Bekennenden Kirche zusammen und nahmen dort Bezug auf eine Passage aus Luthers an den Eislebener Prediger Dr. Güttel gerichteten Brief "Wider die Antinomer" (die "Gesetzesstürmer") aus dem Jahr 1539.
Durch alle (kirchen)politischen Lager zog sich in der NS-Zeit die häufig beschwörende Deutung Luthers als "Urtypus des Deutschen". Auch Martin Niemöller, einer der Mitbegründer des Pfarrernotbundes, stimmte in seiner am Reformationstag 1936 in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem gehaltenen Predigt in diesen Ton ein: Luther sei heute "ein Vorbild (...), dieser Gottesmann von Wittenberg, ein echter deutscher Mann".
Es waren hingegen "deutsch-christliche" Theologen und nationalsozialistische Politiker, die Luthers judenfeindliche Aussagen mit der NS-Rassenideologie und der antisemitischen Politik des Regimes verschränkten. Gegenstand eines Deutungskampfes zwischen Deutschen Christen und Anhängern der Bekennenden Kirche wiederum war die Auslegung von Luthers "Zwei-Reiche-Lehre"; den Nationalsozialisten dienten entsprechende Bezüge zur Rechtfertigung des von ihnen etablierten totalitären "Maßnahmenstaates".
Auch das Lutherlied "Ein feste Burg ist unser Gott" reklamierten die verschiedensten Gruppen und (kirchen-)politischen Lager für sich. Während des Zweiten Weltkriegs sangen es evangelische Gemeinden an der "Heimatfront". Eine besonders trostspendende Funktion kam dem Lied in dem von Zwang, Gewalt und Entbehrungen gekennzeichneten Alltag in den Konzentrationslagern zu. Überliefert ist das Beispiel des niederländischen reformierten (!) Pfarrers Gerard Libertus Bouman, der von November 1942 bis zu Befreiung des Lagers im KZ Dachau inhaftiert war. Ausgangspunkt der Morgenandacht, die Bouman dort am Reformationstag 1944 hielt, waren "Ein feste Burg" und der 46. Psalm: ",Der Herr Zebaoth ist mit uns; der Gott Jakobs ist unser Schutz.‘ In diesen Worten der Gewißheit verbarg sich Martin Luther, als die Drohung des Feindes sein Leben so sehr beengte." Das predigte einer, dessen Leben im KZ mehr als "beengt" war, seinen Schicksalsgenossen und Glaubensbrüdern zum Trost und zur Stärkung ihres Glaubens und Überlebenswillens.
Nur eine "dunkle Seite"?
Im Sommer 2013 ging Nikolaus Schneider im Rahmen eines Vortrags über "Reformation und Toleranz" auf eine gewisse Distanz zum Wittenberger Reformator – und dies gleich in dreierlei Hinsicht: Sowohl "Luthers Schriften gegen die Juden" als auch "seine Haltung zur Verfolgung der Täuferbewegung und zu Hexenverbrennungen" würden "heute zu Recht als Belege einer Tod-bringenden Intoleranz und als ‚dunkle Schatten‘ der Reformation erkannt". Damit hob der damalige EKD-Ratsvorsitzende sich positiv von einer im "Lutherjahr" 2017 dominanten Lesart ab, nach der nur eine einzige "dunkle" Seite des Reformators auszumachen sei, die sich in seinen judenfeindlichen Spätschriften manifestiert habe. Diese "judenfeindlichen" Elemente in Luthers Werk ordnete der überwiegende Teil derer, die sich besagter "dunkler Seite" des Reformators schämten, unter dem Begriff eines (zeittypischen) christlichen Antijudaismus ein. Demgegenüber stießen Stimmen wie die des Kirchenhistorikers Thomas Kaufmann, die Luthers Judenfeindschaft als Ausdruck eines "vormodernen Antisemitismus" deuten, nur auf ein begrenztes Echo.
Zu einem - in Teilen - ähnlichen Befund wie Nikolaus Schneider war im Jahr 1934 ein "deutsch-christlicher" Theologe gekommen. Anders jedoch als der EKD-Ratsvorsitzende hatte der Kirchenhistoriker Erich Vogelsang, der im "Dritten Reich" als Referent im Preußischen Kultusministerium für die Reorganisation der theologischen Fakultäten zuständig war, dem Reformator applaudiert. Im altehrwürdigen Jahrbuch der Luther-Gesellschaft betonte Vogelsang die "dreifache Kampfesfront", die Luther "in den großen Streitschriften seiner letzten Jahre vermächtnisartig" formuliert habe: "gegen Rom, gegen die Juden und gegen die Türken". Und tatsächlich: Die antitürkischen Äußerungen Luthers in seinen beiden "Türkenschriften" von 1529 und 1530, etwa dass "der Türke" ein "Diener des Teufels" sei, blieben in der Rede des EKD-Ratsvorsitzenden unerwähnt. Wie überhaupt die polemische Übertreibung und das Tiradenhafte als Kennzeichen einer Vielzahl von Luthers Predigten und Schriften bis heute noch häufig übersehen werden: Die Fürstenheere sollten den aufrührerischen Bauern wie "einen tollen Hund totschlagen", hatte Luther 1525 geschrieben.
Und der evangelische Landesbischof von Thüringen, Marin Sasse, konnte, nur wenige Wochen nach den Novemberpogromen 1938, in seiner in 100.000 Exemplaren gedruckten Broschüre "Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!" seitenlang die wütenden Passagen aus Luthers 1543 publizierter Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" im Original abdrucken: "1. daß man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke (...) 2. daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre (...) 3. daß man ihnen nehme alle ihre Gebetbüchlein und Talmudisten" und so weiter und sofort – ein fürchterlicher Forderungskatalog, garniert mit antijüdischen Wucherverbots-Forderungen und der Androhung des Zwangs zur Arbeit "im Schweiße ihrer Nasen".
In der Tat klingen die von Luther geforderten Maßnahmen einer "scharfen Barmherzigkeit" gegenüber den Juden geradezu wie eine Blaupause für die antisemitische Entrechtungs- und Gewaltpolitik der Nationalsozialisten, die in den Novemberpogromen gipfelte. Mag dies die "dunkelste" Seite des deutschen Reformators sein – auch seine nicht auf Jüdinnen und Juden, sondern auf andere Gruppen bezogenen Tiraden ließen ihn schon während der "Lutherdekade" (und lassen ihn heute erst recht) als Aushängeschild evangelischer "Toleranzkultur" zutiefst ungeeignet erscheinen.